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Künstlerin Annette Paul fest im Sattel: Fahrradtour durch „Offene Ateliers“ in Potsdam

Mit Annette Paul geht es am Sonntag für die Kunst auf eine Fahrradtour durch „Offene Ateliers“.

Potsdam - Annette Paul packt zu. Kurzerhand trägt sie ihr Fahrrad die Treppe rauf und posiert selbstbewusst vor dem raumgreifenden Triptychon ihrer Kollegin Marion Fink. Werbung muss schließlich sein. Und ein Foto, das Fahrrad und Kunst vereint, passt doch bestens zu ihrer Aktion am „Tag des Offenen Ateliers“.

Am Sonntag radelt sie gemeinsam mit hoffentlich vielen Kunstinteressierten durch Potsdam-West und öffnet Blicke in die Bilderwelt ihrer Kollegen. Unter anderem geht es in die „Scholle 51“, wo rund 30 Parteien Küche, Ateliers und Probenräume teilen und wo wir an einem langen Tisch Platz nehmen. In dem großen Gemeinschaftsraum wird es am Sonntag neben Konzerten eine Gemeinschaftsausstellung geben. Auch Annette Paul ist Mitglied im Hausverein des Atelierhauses: als Vertreterin des Stadtteilnetzwerkes Potsdam-West. Sie ist die geborene Netzwerkerin und Sprecherin auf allen Podien, die sich für Gemeinschaft und Kunst in Potsdam stark machen, sei es im Rat für Kunst und Kultur oder im Verein für den Erhalt des Rechenzentrums.

Radtour durch Potsdam: Für die Kunst in den Sattel

Diese Atelierrundfahrt war indes eine Idee der Stadt. Annette Paul, Radfahrerin aus Überzeugung, setzt sich gerne für die Kunst in den Sattel. Ebenso wie Tina Flau, die eine zweite Radtour anbietet, und mit der Annette Paul schon seit Studientagen in Dresden verbunden ist. Beide Künstlerinnen führten im November Gäste auf der ART Brandenburg durch die Kojen. Es ging ihnen nicht um kunstwissenschaftliche Erläuterungen, sondern eher um die Frage, was zieht mich in ein Kunstwerk hinein, was sehe ich, was versperrt mir den Zugang?

Ins Gespräch kommen, vermitteln, das ist die Stärke von Annette Paul. Und das lässt die 47-Jährige zu dem guten Geist werden, der das Zusammengehörigkeitsgefühl vor allem der Potsdam-Westler vorantreibt. So war in ihrem Atelier Guelden die Geburtsstunde des Stadtteilchores und auch das Kiezorchester formierte sich bei ihr. Beide Gruppen sind inzwischen der Ateliergröße entwachsen und in andere Räume gezogen. Wie kommt es, dass sich in diesem Kiez die Menschen nicht ins Häusliche zurückziehen, sondern im Nachbarschaftsgarten Unkraut jäten, in der Westkurve zusammen Fußballspielen, sich beim Offenen Adventskalender gemeinsam kalte Füße holen? „Bei uns ist eine tolle Mischung aus Ost und West zusammengeballt, in der große Gestaltungskräfte schlummern. Ähnlich wie kurz nach der Wende“ . Da es heute aber kaum noch unsanierte Innenräume für Experimente gibt, entdeckten sie den Außenraum für sich.

,Wir hauen ab wie Biermann’

Annette Paul trägt beides in sich: Ost- und Westerfahrung. Ungewollt. Ihre Eltern stellten 1977 einen Ausreiseantrag. Die Tochter war damals gerade sechs. Sieben Jahre dauerte es, bis der Antrag genehmigt wurde und sie in den Westen zogen. „Wir saßen immer auf Koffern.“ Aber der Vater konnte sich schließlich seinen Traum verwirklichen und Tontechniker an der Schaubühne in Westberlin werden. „Ich erinnere mich, wie meine Eltern sagten: ,Wir hauen ab wie Biermann’. Und ich sah uns mit Bierkästen unterm Arm losziehen.“ Im Westen fühlte sie sich lange wie eine Ausländerin. „Mit 13 ist man ohnehin ein Blatt im Wind. Es war knallhart, von der Künstler-WG in Karl-Marx-Stadt in ein Neubauviertel in Staaken zu ziehen. Für mich war es schwer zu verstehen, was sich da freier anfühlen sollte.“ Als sie sich schließlich eingelebt hatte, kam die Wende. „Nun gehörte ich zu denen, die abgehauen waren. Das hat mich auch verletzt. Aber ich hatte einen extrem großen Vorsprung im Aufeinanderzugehen.“

Solche Erinnerungen und dieses Gefühl, mit Koffern loszulaufen, kamen ihr wieder hoch, als sie letztes Jahr vier Wochen pilgerte: durch die ganze ehemalige untere DDR, da lang, wo der Zug sie einst in den Westen fuhr. Im Gepäck hatte sie jetzt die Sätze des Philosophen Jacob Böhme aus ihrer Heimatstadt Görlitz. „Das Dunkle ist in dem Licht schon enthalten“, sei ein Kerngedanke von ihm. Dazu wird sie nun am Sonntag in ihrem Atelier Guelden eine Performance machen, zu dem Göttlichen und Verwerflichen. Annette Paul sieht sich vor allem als Performerin, auch wenn sie immer wieder Neues ausprobiert. Deshalb arbeitet sie auch nur verkürzt im Stadtteilnetzwerk. Sie braucht Zeit für andere Dinge. Manchmal ist sie Schlossdrache oder Hofdame - abonniert von der Schlösserstiftung, dann kuratiert sie Ausstellungen, moderiert Konzerte oder erzählt in der Erlöserkirche die Weihnachtsgeschichte. Sie liebt das öffentliche Podium. „Ich hätte auch ein Machtmensch und Politikerin werden können. Aber das finde ich zu gefährlich, weil man schnell andere instrumentalisiert.“ Sie ist lieber im „Erzählwerk“, versucht dort, die Kraft der Worte zu finden. „Manchmal habe ich auch schon überlegt, Pfarrerin zu werden. Ich moralisiere sehr gern.“

„Wenn man Kinder hat, geht man achtsamer durchs Leben"

Lange konnte sie sich nicht entscheiden, welche Kunstform für sie die richtige ist. So studierte sie zunächst Schauspiel, Gesang und Kunst, später Restaurierung und schließlich, nach einem Workshop bei Carrara, Bildhauerei. Während des Studiums in Dresden kamen die beiden Töchter auf die Welt. „Alles hat sich gefügt. Wenn man Kinder hat, geht man achtsamer durchs Leben. Also gründeten wir eine Foodgruppe, betrieben einen Kinderladen und dann ein Kinder-Café.“ Schließlich initiierte sie eine reformierte Schule mit. Doch dann bekam ihr Mann einen Job bei der Schlösserstiftung und sie zogen von Dresden nach Potsdam. Inzwischen ist der Kunsthistoriker Zirkustrainer bei Montellino. „Wir sind eine bunte bewegte Familie und verändern uns immer mit den Entwicklungsstufen unserer Kinder. Jetzt gehen sie aus dem Haus. Mal sehen, was uns nun einfällt.“

Über ihre eigenen Werke sagt Annette Paul, dass sie noch nicht für sich selbst stehen. „Sie brauchen meine Worte, meine Haltung dazu.“ Das ist für sie kein Selbstzweifel, eher die Frage, ob nicht genau dieses Vermitteln ihr Medium sei, ihre Form der Kunst: Türöffnerin zwischen Publikum und Werk. Gern auch per Rad.

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Hintergrund: Mit dem Fahrrad zur Kunst

Der Tag des Offenen Ateliers wird um 11 Uhr im Atelier von Gosha Nagashima, Dortustraße 55, eröffnet. Die Fahrradführung 1 mit Annette Paul startet um 11.45 Uhr bei Patricia Vester (Grafik, Illustration), Hermann-Elflein-Straße 26, führt weiter ins Atelierhaus „Scholle 51“, Geschwister-Scholl-Straße 51. Dort gibt es u.a. Fotografie von Henrik Rauch sowie Malerei von Marion Fink, Martina Voß und Ira von Kunhardt. Dann geht es in die Carl-von-Ossietzky-Straße 23 zu Heike Isenmann (Malerei, Grafik, Illustration) und endet in der Ossietzky-Straße 28 im Atelier Guelden Annette Paul.

Fahrradtour 2 mit Tina Flau:Treffpunkt 14 Uhr in der Gutenbergstraße 96 vor dem Atelier Tonart von Rapunzel Bräutigam. Weiter geht es zur Benkertstraße 21 zu Olga Maslo (Zeichnung, Grafik, Keramik), in die Behlertstraße 21 zu Mike Bruchner, (Malerei, Unikatbücher) und zur Fotogalerie Potsdam im Treffpunkt Freizeit. Ausklang ist in der Langhansstraße 26 bei der Malerin Sabine Drasen. 

42 Kunstorte sind am Sonntag, dem 6. Mai, von 11 bis 18 Uhr, geöffnet. Das Programm finden Sie unter hier für Sie zusammengestellt.  

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