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Die Keizersgracht und Leidsegracht in Amsterdam, unter anderem auch der Hometurf von Theo Thijssen und seines Helden Kees

© imago images

Romanklassiker aus den Niederlanden: "Kees, der Junge" von Theo Thijssen

Eine neue Gangart betreiben: Theo Thijssens Romanklassiker „Ein Junge wie Kees“ in einer deutschen Neuübersetzung.

Amsterdam, Ende des 19. Jahrhunderts. Zwischen den ringförmigen Grachten der niederländischen Hauptstadt und Handelsmetropole und seinen umtriebigen und geschäftstüchtigen Handwerks- und Kaufmannsbetrieben wächst in nicht unbedingt ärmlichen, doch einfachen Verhältnissen der Junge Kees auf. Unweit der Kalverstraat, einer seinerzeit bereits berühmten und belebten Einkaufsmeile, betreibt Kees’ Vater einen kleinen Schuhladen.

Der Laden liegt im damaligen Arbeiterviertel Jordaan, nur wenige Schritte entfernt von der Jahrhunderte alten Prinsengracht, der längsten des Amsterdamer Grachtengürtels. Mit dem Umsatz allerdings hapert es gewaltig. Noch schlimmer, ja, für die Familie von Kees Bakels existenzbedrohend kommt es, als der Vater schwer erkrankt.

Kees, der noch eine Schwester und einen kleinen Bruder hat, hilft, wo er kann und erledigt für Vater und Mutter wichtige Botengänge, auch solche, bei denen er hohe Geldbeträge hin- und hertransportieren muss. Er ist noch ein Schuljunge und sein wichtigster Lebensmittelpunkt – neben dem Zuhause – ist natürlich die Schule. Hier übernimmt Kees, der unter seinen Mitschülern und Lehrern vielleicht als etwas bizarr, aber zuverlässig gilt, ebenfalls verantwortungsvolle Aufgaben – er ist zum Beispiel für das Öffnen und Schließen von Türen zuständig.

Kees, der Junge ist der Erfinder des "Schwimmbadschritts"

„Ein Junge wie Kees“, so der Titel des Romans (Aus dem Niederländischen von Rolf Erdorf. Wallstein Verlag, Göttingen 2019. 432 Seiten, 24 €)., „Kees de Jongen“ wie er im Original heißt, ist ein tragikomischer Held. Doch wäre er nicht der, der er ist und der Roman auch weit weniger anrührend und mitreißend, wenn es dabei bliebe. Nein, Kees ist ein besonderer, ein außerordentlicher Junge; der zum Beispiel den legendären „Schwimmbadschritt“ (im Original: „zwembadpas“) entwickelt und geprägt hat. Der wiederum ist jedem Niederländer auch heute noch ein Begriff.

Dieser Schritt ist eine vor allem auf den regelmäßigen Rückwegen vom Schwimmbad praktizierte Art Schaukunstlauf, eine „besonders merkwürdige Art, zu gehen“: „Wenn man mal schnell vorankommen wollte, musste man sich beim Gehen vornüber neigen, ganz als ob man ständig hinfiele, und dann immer die Arme schwenken, hin und her. Auf diese Art verlegte sich Kees ganz speziell … Wochenlang sah man die Jungen seiner Schule mit ernsten Gesichtern die neue Gangart betreiben“.

Kees ist also so etwas wie ein Trendsetter. Vor allem aber ist er ein großer Phantast – und das im besten, schönsten Sinn. Der Verfasser dieses wunderbaren Romans, der erstmals 1923 erschien, der aus der Ferne an Charles Dickens erinnern mag und in den Niederlanden als Klassiker längst kanonisiert ist, war Theo Thijssen.

"Kees, der Junge" ist in den Niederlanden Schullektüre

Das bekannteste Werk des in Deutschland weitgehend unbekannten Autors gehört in Holland nicht nur zur Schulliteratur. Nach Thijssen, der 1879 geboren wurde und 1943 starb, wurden Schulen, ein Museum und ein Jugendliteraturpreis benannt, und ein Denkmal in Amsterdams Grachtenviertel gibt es auch. Im Hauptberuf war Thijssen Lehrer, dazu sozialistischer Politiker und Abgeordneter; er gründete die Zeitschrift „De Nieuwe School“, in der er Artikel zum Thema Lehrmethoden und Schulbücher schrieb, und er gab verschiedene andere Zeitungen heraus.

Das Milieu, in dem sein Erfolgsroman angesiedelt ist, war Thijssen also bestens vertraut. „Ein Junge wie Kees“ trägt aber auch über den Schulkosmos hinausgehend autobiografische Züge.

Wie seine Romanfigur wuchs Theo Thijssen im Jordaan auf, sein Vater war der Inhaber eines Schuhgeschäfts und starb, als er acht Jahre alt war. Thijssen musste früh helfen, die Familie, zu der mehrere Geschwister zählten, mit über die Runden zu bringen. Kees hat seine ganz eigene Strategie, mit seinem eher tristen Alltag, mit der Krankheit seines Vaters und mit offenkundig drohenden Schicksalsschlägen umzugehen – ob er sie nun bewusst verfolgt oder unbewusst, sei einmal dahingestellt.

Thijssen führt den Leser gern auf Abwege

Diese Strategie bestimmt zu einem großen Teil die Struktur des Romans und macht einen Großteil seines Reizes aus. Kees nämlich phantasiert. Er findet sich nicht einfach ab mit dem, was um ihn herum geschieht – weder mit den Hänseleien seiner Mitschüler, noch mit der scheinbAren Ablehnung, die er durch seine Mitschülerin Rosa Overbeck erfährt, in die er sich verliebt.

Nein, er imaginiert seine eigenen Welten und Handlungsabläufe, womit Thijssen gleichzeitig den Leser auf Abwege führt.

Zum Beispiel spinnt er sich eine Karriere als Maler zusammen, als Fechtmeister oder auch nur als Hundebesitzer oder Briefmarkensammler.

Immer wieder stellt sich die Frage, ob das, was da gerade erzählt wird, wirklich geschieht – oder ob sich Kees das nur vorstellt. So entsteht ein ständiges Schwanken zwischen Imagination und Wirklichkeit.

Das wirkt zum einen sehr wahrhaftig und bewegt sich nah am Leben eines kleinen, heranwachsenden Jungen. Zum anderen handelt es sich um ein modernes, lebendiges und nicht zuletzt unterhaltsames Erzählprinzip – wobei Kees und mit ihm der Leser und die Leserin sich am Ende immer wieder auf den Boden der Tatsachen zurückversetzt sieht. „Ein Junge wie Kees“ ist auch ein humoristischer Roman. Dass in ihm überdies viel Trauriges und viel Wehmütiges enthalten ist, macht ihn umso lesenswerter.

Tobias Schwartz

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