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Kultur: Jenseits der Synagoge

Der 1922 veröffentlichte Roman Ludwig Winders (1889-1946) weckt jene Nostalgie, wie sie von "Nach-k.u.

Der 1922 veröffentlichte Roman Ludwig Winders (1889-1946) weckt jene Nostalgie, wie sie von "Nach-k.u.k-Literatur" beflügelt wird - diesem bleibenden Denkmal einer zusammengestürzten Welt: "Viele Rassen und Nationen sprachen den Budapester Verständigungsjargon, Magyaren, Österreicher, Russen, Polen, Serben, Rumänen, Italiener und Griechen. Alle trieben Politik, manchmal gab es Schlachten, die die Polizei beendete. Gewöhnlich sprach man über Kunst, Armut und Reichtum." Im engeren Sinn handelt es sich bei diesem Buch um deutschsprachige Prager Literatur: Winder gehörte zum Kreis der Prager Autoren, der vor allem durch Franz Kafka berühmt wurde. Im Nachwort des Herausgebers Herbert Wiesner findet sich ein beeindruckender Abriss dieses einzigartigen Biotops. Viele Register sind in diesem "Die jüdische Orgel" betitelten Buch zu hören. Die Stimme des Erzählers klingt je nach Handlungsebene verschieden. Die Geschichte fängt geruhsam in einer jüdischen Siedlung Mährens an. Der Vater des noch ungeborenen Helden, Kantor Wolf Wolf, ist so fromm und asketisch, dass er die Schwangerschaft seiner Frau erst im siebten Monat bemerkt. Nur ein einziges Mal hatte die Mutter sich etwas "Sündiges" geleistet: sie ließ sich fotografieren. Ihr Mann wurde zornig, "seit damals war" bei ihr "nichts als Frömmigkeit." Der kindliche Protagonist Albert nimmt die Mutter als Licht und Freude wahr, den Vater als Finsternis und Furcht. In das vertraute Bild der "Stettl-Kapitel" dringt ein unerwartetes Detail, als es über die Mutter heißt: "Wenn das Kind schlief, wenn der Mann schlief, lag sie eine Stunde wach, las Gedichte von Heinrich Heine." So kommt in der mittelalterlichen Ewigkeit ein moderner Wind auf, er verwirrt Albert und trägt ihn fort.

In der Nachbarstadt Prerau, wo Albert zum Kummer des Vaters ein Gymnasium besuchen muss, setzt eine andere Erzählhaltung ein. Das Erzählen wird persönlich. Ein zufällig beobachteter Liebesakt entsetzt den Jungen, erregt seine Sinne, schlägt ihn mit der grausamen Einsamkeit der Pubertät. "Gespräche hörte er, die widerlich rochen, Bilder und Photographien zeigte man ihm, so ekelhaft, dass er ausspuckte. Aber er stahl und kaufte sie, denn er sagte sich, das ist die Rettung." Durch eine Prostituierte in die Welt der Liebe eingeführt, entfernt sich Albert weiter von den Wunschträumen seines Vaters. Er besucht zwar das Rabbinerseminar in Budapest, sein wirkliches Leben spielt aber in den "Vergnügungen der Großstadt." Nicht, dass er geistige Bemühungen aufgegeben hätte, doch über "Sternen, Weltsystemen, Plato, Jesus, Moses, Maimonides" thront das Weib. Als es sich in der Choristin Etelka verkörpert, bekommt die Stimme des Erzählers einen expressionistischen Hauch. Albert und seine Geliebte durchlaufen das grelle Nachtleben: Budapest, Wien. Etelka hofft, über einen reichen Liebhaber die Karriere als Opernsängerin einzuschlagen; wie Manon Lescaut überzeugt sie Albert, das sei für sie beide gut. Albert frönt bewusst dem Laster, denn "ehrlich ist nur das Laster, alles andere ist Schwindel und Hochstapelei."

Diese Liebe, der Albert konsequent alles opfert, ist der Kern des Sujets, aus dem der interessanteste Strang des Buches erwächst: Das Sünde-Buße-Thema, in dem alle Heiligenvita-Register gezogen werden, denn nach der Begeisterung des Fallens gerät der Held in reuevolle Verzückung. Am Ende findet er seine seelische Ruhe und betrachtet die ganze Welt als ein wenig fremd, sündig, mitleid- und liebenswert. Damit wird auf den Titel Bezug genommen: das nicht-jüdische Instrument, die Orgel, die, in der Synagoge von "Modernisten" eingeführt, den frommen und bis zur Grausamkeit strengen Vater entsetzte, schenkt dem Sohn die Klänge der ganzen Welt. Er gelangt an die Grenze des jüdischen Selbsthasses, doch er überschreitet sie nicht; er nimmt das "Fremde" an, ohne das "Eigene" zu leugnen. Die Sünder-Buße-Geschichte endet im klassischen Ton einer Vita. Albert verwandelt sich in eine schemenhafte heilige Gestalt, die zwar sonderbar und lächerlich auf die anderen wirkt ("Lassen Sie sich wahrsagen, es kostet nichts! Sie werden Glück haben, sie werden gesegnet sein, aber in Reinheit müssen Sie leben"), aber ihr inneres Gleichgewicht gefunden hat; sie strahlt. Die verschiedenen Stimmen und Register lassen den ausgegrabenen Roman nicht zweitrangig erscheinen, sondern führen ein kleines literarisches Orchester vor, dessen Vielstimmigkeit seinen Reiz ausmacht: Sie bündeln sich zur unvergesslichen Melodie.Ludwig Winder: Die jüdische Orgel. Roman. Herausgegeben und mit einem Nachwort von Herbert Wiesner. Residenz Verlag, Salzburg und Wien 1999. 111 S. , 39 DM.

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