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An einem Oktobertag i in der Schaperstraße. Henry Threadgill (Zentrum) und Silke Eberhard (rechts daneben) bei den Proben zu „Simply Existing Surface“.

© Berliner Festspiele/Camille Blake

Jazzfest Berlin 2023: Ein Probenbesuch bei dem Komponisten Henry Threadgill

„Simply Existing Surface“, das ehrgeizigste Projekt des diesjährigen Festivals, ist ein Auftragswerk für seine Band Zooid und Silke Eberhards Potsa Lotsa XL. Es führt tief in den eigenwilligen Klangkosmos des 79-jährigen Multisinstrumentalisten.

Von Gregor Dotzauer

Im großen musikalischen Karneval der Tiere sind Zooide kaum vertreten. Stockstumm und sesshaft, wie sie sind, lässt sich weder ihr Ruf noch ihre Fortbewegungsart imitieren. Auch taugen die zumeist marin, in Kolonien lebenden Wesen nicht auf Anhieb als Sympathieträger.

Ob sie wie die Kelchwürmer oder die Catenuliden Plattwürmer miteinander verwachsen sind, wie die Flügelkiemer und Moostierchen in einer Wohnröhre zusammenleben oder wie beim Manteltier gar in einer extrazellulären Matrix, der Tunica, siedeln: Der Superorganismus, den sie bilden, ist ein Wunder, das sich erst intellektuell erschließt, und es hat den Altsaxofonisten und Flötisten Henry Threadgill mit seinem Quintett Zooid gebraucht, um ihnen zumindest metaphorisch einen Platz in der Musik zu verschaffen.

Dabei ist das modulare Denken, das die Kompositionen seiner letzten Jahre prägt, in dem Grenzgebiet von Neuer Musik und Jazz, das er seit seiner Chicagoer Zeit in den Kreisen der Association for the Advancement of Creative Musicians (AACM) an der Seite von Muhal Richard Abrams, Roscoe Mitchell oder Anthony Braxton kennengelernt hat, nichts Ungewöhnliches. Er hat es über die Jahrzehnte seines nunmehr 79-jährigen Lebens nur zu einer Sprache geführt, die das Beste aus beiden Welten in einem reich kolorierten Idiom zusammenführt: Das Unpersönliche der klangerzeugenden Verfahren und das Persönliche, das diese in den improvisierten Passagen durch die Solisten gewinnen, schaffen eine fruchtbare Spannung von Struktur und Ausdruck.

Als die Berliner Altsaxofonistin und Klarinettistin Silke Eberhard mit ihrem Ensemble Potsa Lotsa XL beim Jazzfest Berlin 2020 eine Threadgill-Hommage ausrichtete, war dies ein Ersatz für Zooid: Threadgill hatte Nadin Deventers Einladung pandemiebedingt ausschlagen müssen. Jetzt aber, im vorletzten Jahr ihrer künstlerischen Leitung, wird das Versäumte nachgeholt – und mehr als das.

Metrische Sprünge

Eine zwölfteilige Auftragskomposition vereint Zooid und Potsa Lotsa zum spektakulärsten Projekt des aktuellen Jazzfests. Der Titel, „Simply Existing Surface“, auf Deutsch „Einfach bestehende Oberfläche“ oder „Schlicht vorhandene Fläche“, benennt, was Musik vor aller Bedeutung ist: ein Stück akustischer Ausdehnung in der Zeit, ein pulsierendes Netz eindeutiger Tonhöhen, ein physikalisch beschreibbares Ding.

Henry Threadgill tut seit jeher einen Teufel, die Namen seiner Stücke zu erklären. Am zweiten Probentag, unter dem Dach des Hauses der Berliner Festspiele, hat er ohnehin erst einmal genug damit zu tun, diese Oberfläche, so wie er sie konzipiert hat, in Bewegung zu bringen. Gleich im ersten Satz wechseln die Zählmaße taktweise von 4/4 zu 5/4 und weiter zu 3/4, bevor es eine Weile zurück zu 4/4 geht: Wer da auch nur einen Schlag lang nicht bei der Sache ist, verliert den Anschluss.

Die fünf von Zooid, darunter der Gitarrist Liberty Ellman und der Tubist José Davila, sind in diesen Gefilden kampferprobt und verstehen sich, wenn nicht im Schlaf, so doch auch im halbwachen Zustand eines Oktobervormittags, an dem die Sonne nur zaghaft durch die Wolken dringt, auf diese sich unvermindert fortsetzenden metrischen Sprünge, während es Silke Eberhard und Potsa Lotsa immer wieder einmal aus der Kurve trägt. Kein Anlass zur Sorge, sagen die Amerikaner, was glaubt Ihr, wie es uns anfangs ergangen ist. Und auch der Zeremonienmeister selbst zeigt sich gelassen, unterbricht, wenn die rhythmischen Akzente nicht punktgenau sitzen und zählt vor.

Feingliedrige Kammermusik

Threadgill, dessen eigenwillige Klangschöpfungen ihm einen erstaunlichen Ruhm bis hin zu einem Pulitzer-Preis für sein Zooid-Album „In for a Penny, in for a Pound“ (2016) und eine Jazz Masters Fellowship des National Endowment of the Arts eingebracht haben, schreibt eine feingliedrige Kammermusik, die durch ihren Verzicht auf die diatonische Dur-Moll-Logik mit einem ungewöhnlich hohen Maß an Dissonanzen aufwartet.

Sekundreibungen, übermäßige Quarten und verminderte Nonen gehören zum Grundvokabular seiner chromatischen Herangehensweise. Die 22-seitige Partitur für das 15-köpfige Ensemble ist bis ins kleinste Detail ausnotiert, lässt sich von den einzelnen Sätzen bis zur kleinsten „Zelle“, dem Ausgangspunkt seiner Kompositionen, aber jederzeit auseinanderbauen und improvisierend erweitern.

Pulitzer-Preisträger und NEA Jazzmaster. Henry Threadgill in New York.

© peter gannushkin/berliner festspiele

Der Tonvorrat, der den Solisten dafür zur Verfügung steht, ergibt sich einerseits aus diesen wie in einem Bruch mit Zähler und Nenner durch jeweils drei Töne festgelegten, über den jeweiligen Takten stehenden Zellblöcken und deren daraus abgeleiteten Nachbarzellen: Aus ihnen gewinnt Threadgill auch das melodische Material der einzelnen Partiturstimmen. Andererseits steht das Reservoir da als Zahlenfolge. Während die Anweisung für Jürgen Kupkes Klarinette und Taiko Saitos Vibraphon zu Anfang etwa „22-366-7“ lautet, hat die Gitarre „-2445-6“ zu folgen.

Heureka-Erlebnis in Goa

Das liest sich kryptischer, als es ist. Denn die Ziffern bezeichnen ganz konventionell Intervallabstände: Die 2 steht für die Sekunde, die 3 für die Terz, die 4 für die Quart und so weiter. Ein Minus markiert das kleine, ein Plus das große Intervall, und wenn zwei gleichlautende Zahlen nebeneinanderstehen, ist damit einmal das kleine und einmal das große Intervall gemeint.

In seiner auch sozialhistorisch aufschlussreichen, in Zusammenarbeit mit Brent Hayes Edwards verfassten Autobiografie „Easily Slip Into Another World – A Life in Music“ (Alfred A. Knopf 2023) erzählt Threadgill, wie ihm die Musik von Edgar Varèse in Opposition zu einer Art Heureka-Erlebnis im indischen Goa verhalf: „Was Ordnung schafft, ist nicht das Spielen eines bestimmten Akkords.

In dieser chromatischen Sprache ist es die Konsistenz der Intervalle, die für Ordnung sorgt.“ Was von außen wie höhere Mathematik aussehen mag, ist für ihn eine reine Frage der Gewöhnung: „Es hört sich kompliziert an, ist aber eigentlich gar nicht so schwierig, wenn man den Dreh erst einmal raus hat. Es ist wie eine Sprache. Man muss nur lernen, sie zu sprechen. Wenn man die Möglichkeiten aus den Stammzellen ableitet, erhält man eine Syntax: eine Kombinationslogik, in der man sich auf bestimmte Weise bewegen kann, auf andere nicht. Sie werden zu Regeln, an die man sich halten muss, wenn man musikalische Aussagen macht.“

Legale und illegale Wege

Muss man sich sklavisch danach richten? Ja kann man es im Überschwang dessen, was sich ergibt, wenn der Apparat mit seinem Blech und Schlagwerk und den beiden Celli erst einmal in Schwung kommt, überhaupt?

Silke Eberhard muss lachen und sagt, es gebe legale Wege und manchmal nicht so legale Abzweigungen. Auch jenseits der Schnippchen, die man der Regelhaftigkeit von Threadgills Musik vielleicht schlagen kann, atmet diese eine organische Freiheit, die aus eben jener Beschränkung hervorgeht. Im ewigen Widerstreit von Bindung und Bindungslosigkeit macht sie ein Angebot, das sich von den Zwangsjacken der Zwölftonmusik und des nachfolgenden Serialismus ihrem ganzen Temperament nach unterscheidet.

Von dem, was man in Bezug auf die AACM oft vorschnell Free Jazz genannt hat, wollte Henry Threadgill nie etwas wissen. Er hat sich auch nie als großer Solist gesehen, sondern als Gestalter von Strukturen, die der Formlosigkeit des reinen Ausdrucks zuwiderlaufen. Daran versuchte sich, denkbar nackt, schon sein legendäres Trio Air, das mit Fred Hopkins am Bass und Steve McCall – beide sind längst verstorben – eine Speerspitze jener Loft-Jazz-Bewegung war, die Mitte der 1970er Jahre in New York entstand.

Mit Zooid und den Formationen zuvor hat er, nicht zuletzt auf den Spuren von Jimmy Lyons und Cecil Taylor, Energien kanalisiert, die als Sturm aus den 1960er Jahren noch bis ins 21. Jahrhundert dringen. Ein Teil davon erfüllt auch „Simply Existing Surface“.

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