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Daheim zwischen Adria und Atlantik. Der österreichische Schriftsteller Peter Handke vor der Kulisse Lissabons.

© picture alliance / dpa

Neuer Roman: Handke im feindlichen Zucchinibeet

"Der Große Fall": Peter Handke wirft einen Blick in die Zukunft - macht es sich nicht leicht, eine aus den Fugen geratene Welt einmal mehr in der Schrift zu retten.

„Great Falls, Montana, Juli–September 2011“, steht unter Peter Handkes Erzählung „Der Große Fall“. Haben wir nicht erst Anfang April? Die rätselhafte Datierung verweist wie das Schlussereignis, das sein Erzähler wiederholt vorwegnimmt, auf die Zukunft. Das Buch gibt das Geschehen eines einzigen Tags vor dem „Großen Fall“ zu Protokoll, von dem wir lediglich wissen, dass er am Ende eingetreten sein wird.

Der Protagonist, vom Erzähler-Ich vertraulich „mein Schauspieler“ tituliert, kämpft zu Beginn seines Tags mit einer Welt, die sich urplötzlich seinem gewohnten Zugriff entzieht. Etwas, was für Schauspieler wie Dichter gleichermaßen „Darstellungskrise“ ist, stellt sich ein: „Er, ein Meister der Bewegungsfolge – vom, sagen wir, Landkartenzuklappen zum Hutaufsetzen, Türklinkendrücken, über die Schulter den Abschiedsblick Werfen, in der offenen Tür ganz woandershin Schauen, zuletzt noch den Rucksack oder das Sattelzeug Schultern –, geriet jetzt mit seinen Bewegungen, eher schwachen Versuchen dazu, durcheinander, wollte sich mit einer Hand durch das Haar fahren und verfing sich dabei schon unten an der Gürtelschnalle, während die andere Hand, in der Hosentasche weniger zur Faust geballt als verkrampft, sich da eingeschlossen und nicht herausziehen ließ.“

Dass einem die Welt in ihrer Selbstverständlichkeit abhanden kommt, kennen wir seit „Die Angst des Tormanns beim Elfmeter“, und in den vergangenen 40 Jahren hat Handke viel unternommen, um sie in ihrer dinglichen Konkretheit zurückzugewinnen. Vor allem in „Langsame Heimkehr“ und der „Lehre der Sainte-Victoire“ Landschaft als Wahrnehmungsraum erschlossen, der dem genau Hinschauenden epiphanische Momente verspricht. Daraus wurde dann, bis jüngst zu „Die morawische Nacht“, der poetische Projektionsraum Jugoslawien, in den sich mit „Mein Jahr in der Niemandsbucht“ oder „Der Bildverlust“ auch Projektionen Frankreichs und Spaniens mischten. Der Text zeigt aber auch, wie sich das plötzliche Fremdwerden von Welt und der Versuch, Ordnung zurückzugewinnen, bei Handke mit einem gehörigen Maß an Slapstick verbinden.

„Der Große Fall“ setzt die selbstironische Spur von Handkes späten Erzählungen wie „Lucie im Wald mit dem Dingsda“oder „Don Juan (erzählt von ihm selbst)“ mit neuen Akzenten fort – vor allem auch durch die genussvoll jeanpaulesken Abschweifungen. In der Figur des Schauspielers versucht Handke die Stück um Stück auf dem „Irrtumslehrpfad“, im „Sanften Lauf“, manchmal im „Rückwärtsgehen“ sich zeigende und zur bizarren Metropole erweiternde Landschaft von heute einzufangen, Landschaft in einer seltsamen „Endzeit“, voller gestörter und voneinander isolierten Typen, deren Dämonen den Schauspieler verfolgen: „Einer stürmte mit dem Presslufthammer auf eine in den Regenbogenfarben bemalte Mülltonne los … Einer trampelte unter Kriegsgebrüll auf einer Art Windrose herum … Einer pisste von einer Stehleiter auf das feindliche Zucchinibeet. Einer sprang an der Grundstücksgrenze auf und nieder …“

Gegen solche „Nachbarnkriege“ beschwört der Erzähler das Gehen im Niemandsland der Gebüsch- und Steppenzone, die wundersame Geradlinigkeit der verschlungenen Wege. Und eine dem Zeitgeist entrückte Subversion der Schrift. Handke macht es sich nicht leicht, eine aus den Fugen geratene Welt einmal mehr in der Schrift zu retten – er tut es kraft der Imagination und eines genauen Hinschauens auf Zwischenräume und -töne, für die keiner sonst die rechten Worte hat: „Ja, es war der Hunger auf Speise, auf Frau und auf Geist, alles in einem, den er in sich stürmen spürte.“

Peter Handke: Der Große Fall. Erzählung. Suhrkamp Verlag, Berlin 2011. 280 Seiten, 24,90 €.

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