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Mit Greta Gerwig sitzt erstmals eine Blockbuster-Regisseurin der Cannes-Jury vor.

© dpa/Vianney Le Caer

Eröffnung des Cannes-Festivals : Realität an Croisette, bitte melden!

Am Eröffnungstag beherrscht die französische MeToo-Debatte die Feier des Kinos, auch wenn Cannes-Chef Frémaux lieber zur Tagesordnung übergehen würde. Und aus dem Iran kommen gute Nachrichten.

Von Andreas Busche

Langjährige Cannes-Reisende wissen, dass an der Côte d’Azur die Nächte kürzer sind als auf anderen Filmfestivals. Wo die geballte Macht des Weltkinos zusammenkommt und die versammelte Cinephilie nach der Spätvorstellung noch in Bars abhängt, stellt sich leicht ein „Fear of missing out“-Gefühl ein.

Was nachts hingegen in den Hotels entlang der Flaniermeile Croisette geschah, darüber breitete sich viele Jahre ein Mantel des Schweigens aus. Heute wissen alle um die Komplizen- und Mitwisserschaft eines beträchtlichen Teils der Filmbranche.

„Nächtliche berufliche Treffen in den Hotelzimmern allmächtiger Herren“, sang die französische Schauspielerin Camille Cottin am Dienstagabend auf der Eröffnungsveranstaltung des Cannes-Filmfestivals, „gehören nach der Verabschiedung des MeToo-Gesetzes nicht mehr zu den Gewohnheiten und Bräuchen des Cannes-Wirbels, und wir begrüßen es“.

Es war eine elegante Überleitung zu dem Thema, das dieser Tage die französische Filmbranche beschäftigt: auf der größten Bühne, die das internationale Kino zu bieten hat.

MeToo-Aufruf: „Wer hört uns wirklich zu?“

Dieser Dienstag hatte es tatsächlich in sich. Es begann wenige Stunden vor der Eröffnung mit einem Beitrag von 147 Schauspielerinnen und Autorinnen, darunter Isabelle Adjani, Charlotte Arnould, Emmanuelle Béart und Juliette Binoche, in der Tageszeitung „Le Monde“ unter der Überschrift „Wer hört uns wirklich zu?“ – sieben Jahre nach den ersten MeToo-Enthüllungen über den Hollywood-Produzenten Harvey Weinstein.

„Wir sind 100, aber in Wirklichkeit sind wir Hunderttausende“, schreiben die Unterzeichnerinnen, und fordern am Eröffnungstag ein „umfassendes Gesetz“ gegen sexuelle Gewalt. 

Seit Mitte Februar befindet sich die französische Filmbranche in heller Aufregung, nachdem die Schauspielerin Judith Godrèche Vorwürfe des sexuellen Missbrauchs gegen die Arthouse-Regisseure Benoît Jacquot, mit dem sie als 14-Jährige liiert war, und Jacques Doillon erhoben hatte.

Godrèche wird in diesen ersten Tagen des Festivals wieder im Mittelpunkt des Interesses stehen, am Mittwoch läuft ihr Kurzfilm „Moi aussi“ („Me too“), der mit Opfern sexueller Gewalt produziert wurde, zur Eröffnung der Reihe Un Certain Regard. Am Montag hatte Godrèche noch einen Protest gegen den Leiter der französischen Filmförderanstalt Centre national du cinéma (CNC), Dominique Boutonnat, angeführt, dem sexuelle Übergriffe vorgeworfen werden.

Die Realität dringt in die Festivalblase Cannes ein

Unter diesen Umständen war die kleine Gesangseinlage von „Call my Agent“-Star Camille Cottin noch die denkbar freundlichste Erinnerung daran, dass sich in der Festivalblase Cannes die Realität nicht so leicht ausblenden lässt, wie Programmleiter Thierry Frémaux das zuvor erbeten hatte. Dass unter französischen Journalisten eine Liste mit Namen von weiteren MeToo-Tätern kursieren soll, trägt nicht gerade zur allgemeinen Entspannung bei.

Auch auf der Jury-Pressekonferenz um die Vorsitzende Greta Gerwig waren am Dienstag die jüngsten Entwicklungen in der französischen MeToo-Bewegung Thema; und niemand auf dem Podium hatte den geringsten Zweifel, dass man sich – nicht nur in Frankreich – immer noch am Anfang eines Prozesses befindet. Jury-Mitglied Omar Sy („Ziemlich beste Freunde“) sagte auf die Frage eines Journalisten: „Das Gespräch geht weiter.“

Meryl Streep erhält die Ehren-Palme für ihr Lebenswerk von Juliette Binoche. 

© imago/Starface/IMAGO/Serge Arnal / Starface

Frémaux’ etwas ungehalten formulierter Wunsch, es möge sich die nächsten Tage doch bitte alles um das Kino drehen, wurde von der Eröffnungsgala schließlich aber doch noch eingelöst. Jury-Präsidentin Greta Gerwig und Ehrengast Meryl Streep, die die Goldene Palme für ihr Lebenswerk von Juliette Binoche überreicht bekam, erinnerten an die verbindende Kraft des Kinos. „Kino ist mir heilig. Kunst, Filme sind mir heilig“, sagte Gerwig, womit sie dem Grand Théâtre Lumière als sakralem Ort der Cinephilie Rechnung trug.

Allerdings ist es in der Geschichte des Festivals auch noch nie vorgekommen, dass eine Milliarden-Dollar-Regisseurin der Jury vorsaß – zehn Jahre nach Jane Campion, wie Gerwig betont. Ob das schon ein Zeichen des Wandels in der Filmbranche ist, sei mal dahingestellt. In diesem Jahr stehen wieder nur vier Regisseurinnen im Wettbewerb um die Goldene Palme.

Bewegend ist dann auch der kurze Austausch zwischen Streep und Binoche, der kurz die Tränen kamen, als sie daran erinnerte, dass ihre amerikanische Kollegin die Art und Weise verändert habe, „wie wir Frauen in der Welt des Kinos sehen“. Streep wiederum entgegnete, sie sei fast durchgedreht, als sie erfahren habe, dass sie ihre Auszeichnung von Binoche bekommen würde.

Mixed Messages im Eröffnungsfilm

In gewisser Weise setzt sich am Ende der Veranstaltung der Einzug der Realität in das Festival sogar fort, in Form einer Meta-Komödie nämlich, die die Debatten, welche die Filmbranche seit Jahren umtreiben, in immer absurderen Gedankenkreiseln ventiliert – bis sie sich letztlich aber nur noch um sich selbst dreht.

Der Regisseur und Musiker Quentin Dupieux, bekannt geworden unter dem Namen Mr. Oizo mit dem Neunziger-Hit „Flatbeat“, besetzt mit seinen Nonsens-Komödien in den vergangenen 15 Jahren eine sehr spezielle Nische im französischen Kino, die ihn auch immer wieder in Kontakt mit dem Establishment bringt.

Léa Seydoux und Raphaël Quenard im Eröffnungsfilm „Le deuxième acte“ von Quentin Dupieux. 

© Chi-Fou-Mi Productions / Arte Cinema

Für den diesjährigen Cannes-Eröffnungsfilm „Le deuxième acte“ („The Second Act“) konnte er unter anderem Léa Seydoux, Vincent Lindon und Louis Garrel gewinnen (sowie Isabelle Huppert in einem Cameo), die allesamt Schauspieler spielen, die bei einem Filmdreh immer fließender die Rollen zwischen Fiktion und Realität wechseln.

Irgendwann verliert man die Übersicht, ob hier gerade eine Figur, eine Schauspieler-Figur oder der Regisseur – stets in ironischer Distanz – über Cancel Culture und politische Korrektheit spricht.

Für eine Komödie, die den intellektuellen Leerlauf sozusagen zum Programm macht, entwickelt „Le deuxième acte“ aber eine ziemliche Fallhöhe, was im Cannes-Kontext wiederum eine programmatische Entscheidung sein könnte – wenn gleich zu Beginn ausführlich über das äußere Erscheinungsbild von Frauen diskutiert wird.

Mit Dupieux sendet Frémaux am Eröffnungsabend, an dem viel über die Progressivität der Filmbranche geredet wurde, jedenfalls eine mixed message, die die vierte Wand des Diskursraumes Kino brachial durchbricht. (Den Film-im-Film dreht eine KI, die die Darsteller bereits weitestmöglich rationalisiert hat.)

Gut platziert wirkte übrigens auch das Netflix-Logo am Anfang von „Le deuxième acte“, mit dem der Festivalleiter wohl eine Art Machtdemonstration vollzog: Cannes-Eröffnungsfilme müssen nämlich am selben Tag landesweit in den französischen Kinos starten. So weit wäre die deutsche Branche in den Verhandlungen mit dem amerikanischen Streamingdienst auch gern schon.

Dass in diesem Jahr auch die weltpolitischen Realitäten vor Cannes nicht haltmachen würden, war bereits am Montag klar geworden. Da hatte sich Mohammad Rasoulof über Instagram mit einem Video gemeldet, das ihn auf dem Fußmarsch über die iranische Grenze zeigt. Vergangene Woche war der iranische Regisseur und Autor zu acht Jahren Haft und Peitschenhieben verurteilt worden, nach seiner Flucht befindet er sich inzwischen aber sicher in Europa.

Damit steigt wieder die Hoffnung, dass Rasoulof doch noch zur Premiere seines neuen Films „The Seed of the Sacred Fig“ gegen Ende des Festivals über den roten Teppich gehen könnte. Gegen diesen Realitätscheck hätte auch Thierry Frémaux nichts einzuwenden.

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