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Denker an der frischen Luft. Martin Heidegger 1968 vor seiner Hütte in Todtnauberg im Hochschwarzwald.

© bpk / Digne Meller Marcovicz

Ideengeschichte des 20. Jahrhunderts: Der Glöckner von Meßkirch

Was für ein bodenständiger Kerl: Lorenz Jäger umarmt den Philosophen Martin Heidegger mit einer Biografie.

Heidegger wird im ausgehenden 19. Jahrhundert in Meßkirch geboren und kehrt nach einer Banklehre dorthin zurück. Er bleibt und arbeitet bis zu seiner Pensionierung bei einem örtlichen Kreditinstitut. Fritz heißt er, und jeder kennt ihn in dem kleinen Ort. Käme ein Journalist auf den Gedanken, das Leben des Fritz Heidegger als besonders ursprungsnah, als vornehmlich schicksalhaft zu bezeichnen?

„Ein deutsches Leben“: So titelt Lorenz Jäger. Für Rowohlt Berlin hat er die Vita des anderen Heidegger erzählt. Martin geht fort aus Meßkirch, wird Professor für Philosophie, zuerst in Marburg, später in Freiburg. In Meßkirch heißt er nur der „Bruder vom Fritz“. Ist sein Leben erdverbundener als das seines Bruders? Oder hat der heimische Boden nur den einen der beiden Brüder erweckt? Und wo bleibt die Schwester Marie?

„Er will immer die Zeit sagen. Das ist seine Aufgabe, sein Amt seit der Kindheit. Die Glocken müssen geläutet werden.“ Mit den Glocken von Meßkirch beginnt das Buch. Lorenz Jäger stimmt noch einmal das alte Lied von der schicksalhaften Prägung an. Heidegger, das ist der Schwarzwald, die Tradition. Märchenhaft vorgezeichnet scheint der Weg. Und doch gerät Heidegger – gehört nicht auch das zum Märchen? – auf Abwege, verirrt sich, findet sich. Heidegger selbst liefert das Stichwort: „Größe bedeutet großes Irren“.

[Lorenz Jäger: Heidegger. Ein deutsches Leben. Rowohlt Berlin 2021. 608 Seiten, 28 €.]

Heidegger wird porträtiert als der Bäuerlich-Bodenständige, der Katholisch-Provinzielle, allen Brüchen mit der agrarisch-frommen Herkunft zum Trotz. Sein Theologiestudium bricht Heidegger ab. Er heiratet eine Protestantin, ungeachtet der elterlichen Einsprüche. Und dann wären da noch die Affären, die sich allenfalls mit einem gedehnten Verständnis von katholischen Sitten verbinden lassen. Seiner Frau Elfride schreibt Heidegger einmal, die Seitensprünge dienten der Philosophie. Er müsse im Eros leben, sonst käme das Schöpferische in keine Form.

Gegenspieler Adorno

Apropos Form: Mit dem biografischen Genre ist Jäger vertraut. Bevor er sich Heidegger zuwandte, hatte der langjährige Feuilletonredakteur der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ die Lebensgeschichten Walter Benjamins und Theodor W. Adornos geschrieben. Als „Gegenspieler“ tritt Adorno nun gemeinsam mit Günter Grass auf. Auch Benjamin begegnen wir wieder: Als „gegenstrebige Gründergestalt der neueren Geisteswissenschaften“ wird er Heidegger an die Seite gestellt. Mit beiden ging Jäger hart ins Gericht. Bei Heidegger wählt er einen anderen Ansatz.

Jäger erzählt das Philosophenleben in Etappen: Die 42 Kapitel behandeln Stationen, Konstellationen, Ereignisse, gelegentlich auch Werke. Der Bauplan ist chronologisch, doch springt er innerhalb der Kapitel immer wieder vor und zurück. Viele Abschnitte lassen sich als Essays lesen. Sie umkreisen einen Aspekt, etwa die Beziehungen zu anderen Philosophen: zu Edmund Husserl, Karl Jaspers oder Herbert Marcuse. Hannah Arendt firmiert ab dem zweiten ihr gewidmeten Kapitel nur noch vertraut als „Hannah“. Bei Karl Löwith ist es umgekehrt: Ihm bleibt der Nachname. Nähe- und Distanzgesten bis in die Kapitelüberschriften?

Hochsymbolisch sind Auftakt und Schluss arrangiert: Läuten die Glocken den altehrwürdigen Lebensweg ein, beschwört Jäger mit der Beschreibung des Sterbezimmers ein philosophisches und biografisches Vermächtnis. Auf dem Nachttisch liegen Hölderlin und Goethe: Die Tradition ist also präsent. Es liegt dort auch ein Gedichtband von Paul Celan. Hier greift Jäger zum hohen Ton: „diese letzte Geste der letzten Tage“. Der einstige Hitler-Verehrer verneigt still sich vor dem jüdischen Dichter?

Geheimnis des Glockenturms

Zum Kompositionsprinzip des Bandes gehört, dass Schlüsselbegriffe immer wieder von Heidegger selbst stammen: „Vom Geheimnis des Glockenturms“ handelt ein autobiografisches Schriftlein aus dem Jahr 1954. Briefe und Werke werden ausführlich zitiert, aber zurückhaltend kommentiert, aktuelle Forschung wird dagegen nur rudimentär einbezogen. Kommt Jäger seinem Helden so besonders nah? Gelingt es ihm, ein ebenso wahrhaftes wie intimes Bild zu entwerfen?

Daran lässt sich zweifeln: Hat doch die jüngere Forschung gezeigt, wie sehr Heidegger die Stilisierung liebte – das inszenierte Außenseitertum, den taktischen Einsatz der Tradition, das bewusste Vergessen und das gezielte Umbiegen der eigenen Vergangenheit. Längst ist die Legende vom großen Solitär problematisiert.

Freilich fehlt auf die einschlägigen Studien jeder Hinweis im Buch: Die Untersuchungen von Daniel Morat oder Sidonie Kellerer, um nur zwei Namen zu nennen, tauchen nicht einmal im Literaturverzeichnis auf.

Überhaupt werden Heideggers Nationalismus und Antisemitismus eher heruntergespielt. In den umstrittenen Vorlesungen zur „Einführung in die Metaphysik“, heißt es bei Jäger, fände sich das letzte „ausdrückliche Bekenntnis“ Heideggers zum Nationalsozialismus. Das gilt freilich nur um den Preis einer sehr engen Definition von „Bekenntnis“. Jäger selbst führt später Zeilen an, die das Gegenteil belegen: In den „Schwarzen Heften“ klagt Heidegger 1941 über das „Weltjudentum“, das „durch die aus Deutschland hinausgelassenen Emigranten“ aufgestachelt werde, sich am Krieg aber nicht beteilige.

Nichts bleibe, schwadroniert Heidegger, als „das beste Blut der Besten des eigenen Volkes zu opfern“. Jäger korrigiert ihn: „Hier irrte Heidegger“, heißt es lakonisch. Es habe ja durchaus Pläne zu einer jüdischen Armee gegeben. Auch die emigrierten Schüler des Philosophen hätten dafür argumentiert. Überhaupt sei es paradox, dass Heidegger die Emigranten angreife, gingen einige von ihnen doch mit seiner Empfehlung.

Diese ambivalente Unterstützung hat Jäger zuvor schon hervorgehoben: Mit einigen „markanten Ausnahmen“ sei Heideggers „Verhalten gegenüber seinen jüdischen Schülern und Kollegen“ als „loyal“ zu bezeichnen, wenngleich Heidegger die dahinterliegenden „Beschränkungen“ nicht „grundsätzlich in Frage gestellt“ habe.

Die Philosophie vor persönlichen Verfehlungen retten?

Da urteilt ein Konservativer, der sich lange der Neuen Rechten zugehörig fühlte. Der herausfordernden Aufgabe, die Philosophie vor den Verfehlungen des Menschen zu retten, stellt Lorenz Jäger sich nicht. Dafür hätte er es mit neueren Interpretationen aufnehmen müssen, die an Heideggers Werk den „philosophischen Nationalsozialismus“ herausgearbeitet haben.

Auch die Beschwörungen der Aktualität Heideggers – er sei „unser Zeitgenosse“ – wirken kraftlos. Auf die „Bearbeitung“ einer einzigen Frage spitzt der Biograf Heideggers „Lebensleistung“ zu: „Worin unterscheidet sich Denken von einem Operieren mit Algorithmen?“ Vermintes Gelände auch hier: Gegen das rechnende und berechnende Denken hat Heidegger immer wieder angeschrieben – und dabei antisemitische Stereotypen bedient. Wenn Jägers Buch eine Leistung Heideggers belegt, dann die, dass es schwer ist, über Heidegger zu schreiben, ohne in der Sprache Heideggers zu schreiben.

Im Ton ist die Vita gleichwohl schwankend: Expressive Passagen wechseln sich mit Informationshäppchen ab. Landschaftspsychologie wird durchgespielt: „Dem Mann vom Meer“ – gemeint ist Karl Jaspers – „ist der aus dem Gebirg unheimlich.“ Auf Horoskope wird vertraut: Zum Fasching wird der stotternde Bruder, Fritz Heidegger, zum glorreichen Redner. Kein Wunder: Schließlich sei er am Faschingsdienstag geboren. Und dann wäre da noch das letzte Glöcklein im Wonnemonat: „Die Heideggers sterben oft im Mai.“

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Als Zitat vorangestellt ist der Biografie der erste Satz von Wilhelm Hauffs Märchen „Das kalte Herz“: die scheinbar harmlose Einladung, den Schwarzwald zu besuchen und seine seltsamen Menschen kennenzulernen. Die Gebrauchsanweisung zu einer Faszinationsgeschichte liefert das Märchen gleich mit, die Abgründe und die Verführbarkeit der Hinterwäldlerei.

Der echte Meßkircher, wenn es ihn denn gibt, geht freilich nur im Märchen in den Wald und hält dort dem bösen Kapitalismus das Kreuz entgegen. Der echte Meßkircher trägt als braver Oberschwabe sein Erspartes zur örtlichen Volksbank und plaudert dort ein bisschen mit Fritz Heidegger: über Gott und die Welt.

Hendrikje Schauer

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