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Der Schriftsteller Jonathan Franzen. Er wurde 1959 in Western Springs bei Chicago geboren.

© Janet Fine/Rowohlt Verlag

Jonathan Franzens Roman "Crossroads": Der Blues der weißen Mittelschicht

Als Gott in den frühen siebziger Jahren aufhörte, Amerika zu beschützen: Jonathan Franzens großartiger Familien- und Gesellschaftsroman "Crossroads".

Jonathan Franzen hat seinem neuen Roman, wie man das von ihm gewohnt ist, einen einfachen, nur aus einem Wort bestehenden Titel gegeben. Ein Wort, das allerdings voller Referenzen steckt: „Crossroads“. (Aus dem Englischen von Bettina Abarbanell. Rowohlt, Hamburg 2021. 826 S., 28 €.)

Wer die Popgeschichte kennt, denkt dabei schnell an den legendären amerikanischen Bluesmusiker Robert Johnson und seinen berühmten, viel nachgespielten und interpretierten „Cross Road Blues“, und auch Franzen verweist gleich zu Beginn auf Johnson und diesen Song: Russ Hildebrandt, Pfarrer einer protestantischen Gemeinde in einem Vorort von Chicago, eine der fünf Hauptfiguren dieses in den siebziger Jahren angesiedelten Romans, brüstet sich damit, die Originalaufnahme zu besitzen. Es ist eine 78er-Single, Russ hat sie in den fünfziger Jahren in einem Ramschladen im New Yorker Greenwich Village gekauft.

„Crossroads“, so heißt denn auch die Jugendgruppe von Hildebrandts Assistent Rick Ambrose. 120 Jugendliche sind inzwischen dabei, darunter zwei von Russ Hildebrandts Kindern, der 15-jährige Perry und die 18-jährige Becky. Die „Crossroads“-Ausflüge sind einer der Dreh- und Angelpunkte von Franzens Roman.

Nun hat Rick Ambrose keinen Schimmer, wer Robert Johnson war; auch den Jugendlichen ist es egal, dass der „Cross Road Blues“ darauf basiert, wie jemand, vielleicht Johnson selbst, an einer Kreuzung zweier Highways den Teufel trifft und diesem seine Seele verkauft - um im Gegenzug ein brillanter Gitarrenspieler zu werden.

"Korrekturen" und "Freiheit" waren auch Familienromane

Alles andere als egal ist das Russ Hildebrandt. Er schwärmt zum einen von dem „Schmerz“ in den Stimmen der alten Bluessänger, „das hat mir geholfen, den Schmerz zu verstehen, mit dem ich es je in Harlem zu tun hatte“, gesteht er einer jüngeren Frau in seiner Gemeinde. In diese hat er sich, obwohl verheiratet, verliebt, wohlwissend, wie mies es von ihm ist, „eine Frau zu begehren, die nicht seine Ehefrau war“. Zum anderen erwähnt Hildebrandt, dass Johnsons Song von einer weißen Band aus England gecovert wurde, Cream, und diese so tun würden, „als wäre es ihre Musik.“

Und nicht weiter egal mit Johnson ist es selbstverständlich auch Jonathan Franzen. Denn seine Figuren befinden sich allesamt an entscheidenden Wegmarken und Kreuzungen ihres Lebens. In dem achthundert Seiten starken, dieser Tage zeitgleich in den USA und hierzulande erscheinenden Roman erzählt der 1959 in Western Springs bei Chicago geborene Schriftsteller davon, wie Russ, seine Ehefrau Marion und drei ihrer vier Kinder zwar nicht ständig dem Teufel begegnen, aber zu Gott finden oder von ihm lassen, wie sie voller Vertrauen in ihn sind oder in ihrem Glauben erschüttert werden.

Russ, der 45 Jahre alt ist, und die fünf Jahre ältere Marion stecken in einer schweren Midlife-Crisis; Perry handelt nicht nur mit Drogen, sondern konsumiert sie auch ordentlich; Becky ist der Star der Schule und auf dem Sprung in eine vermeintlich glamouröse Zukunft; und der 20 Jahre alte Clement, der schon studiert, will sich trotz Zurückstellung freiwillig für den Vietnam-Krieg melden.

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Wieder ein Familienroman also, ein weiterer nach „Korrekturen“, mit dem Jonathan Franzen Anfang der nuller Jahre weltberühmt wurde, sowie „Freiheit“, der knapp zehn Jahre später erschien. Selbstverständlich erinnern die Hildebrandts zunächst an die Lamberts und die Berglunds aus eben jenen Romanen.

Man fragt sich, ob die Zeit nicht langsam über die Porträts weißer bürgerlicher Familien hinweggegangen ist, ob deren Streitereien, Kaputtheiten und Verfälle vor dem Hintergrund aktueller gesellschaftlicher Krisen und Veränderungen nicht zur Genüge erzählt worden sind. Zumal Franzen seiner literarischen Form treu geblieben ist: dem ausufernd-erschöpfenden, der Tradition des 19. Jahrhunderts verpflichteten realistischen Erzählen. Intensiv stattet Franzen das Innenleben seiner Figuren aus, noch ihren scheinbar unbedeutendsten Seelenregungen meint er nachspüren zu müssen.

So bekommt dann auch in "Crossroads" mit Ausnahme des jüngsten Kindes, des erst neun Jahre alten Judson, jedes Mitglied der Familie Hildebrandt Kapitel für Kapitel wechselweise seine Auftritte, endend mit Clem, der von einem zwei Jahre währenden Arbeitseinsatz in Mittel- und Südamerika in die Heimat zurückkehrt.

"Crossroads" ist der erste Teil einer Trilogie

Franzens Roman ist dieses Mal ausschließlich in der Vergangenheit angesiedelt, in einem Zeitraum von 1970 bis 1974. Das hat seinen Grund darin, dass „Crossroads“ der erste Teil einer Trilogie mit dem seltsam-großspurigen Titel „Ein Schlüssel zu allen Mythologien“ sein soll und mutmaßlich die Geschichte der Hildebrandts bis in die Gegenwart erzählen wird. Allerdings, und das ist erstaunlich, deshalb lohnt die Beschäftigung mit den Hildebrandts so, wirkt gerade dieser Franzen-Roman enorm zeitgemäß. Er zielt auf unsere Gegenwart mit ihren Rassismus- und Identitätsdebatten, ihren Achtsamkeitspraktiken und Achtsamkeitsbewegungen, er bearbeitet gewissermaßen den Humus, auf dem all das gewachsen ist.

Das beginnt mit Russ Hildebrandts Verweis auf die Cream-Coverversion, von wegen der Aneignung schwarzer Musik durch Weiße, Stichwort kulturelle Aneignung. Das setzt sich fort in der „Crossroads“-Jugendgruppe, in der größtmögliche Nähe und Ehrlichkeit gefragt sind, Konfrontationen eingeübt werden, in der es um Sensibilität, Resilienz und das Zurschaustellen von Gefühlen geht und Themen wie Achtung voreinander und Selbstachtung auf der Tagesordnung stehen.

Und das findet schließlich seine Höhepunkte mit den gut gemeinten Touren zu den Navajos in Arizona. Diese Ausflüge macht Russ kurz nach dem Krieg während seiner alternativen Militärdienstzeit; und diese unternimmt auf seine Initiative hin auch die „Crossroads“-Gruppe. Sie hält in den Reservaten der Ureinwohner Arbeitszeltlager ab und will gezielt Hilfe leisten – wird aber alles andere als mit offenen Armen empfangen.

Was die Jugendlichen mit ihrer bisweilen selbstgefälligen Empathie noch nicht begreifen (allerdings auch Russ' neue Angebetete Frances nicht, als sie versucht, das Kind einer Drogenabhängigen in einem Schwarzenviertel Chicagos extra zu unterstützen), ist Russ schon viel klarer: „Die Navajos waren mit ödem Land geschlagen, auf das selten Regen fiel. Als er sah, mit welchem Langmut sie das erduldeten, fühlte er sich seltsam unterlegen. Die Navajos schienen eng mit etwas verbunden zu sein, von dem er sich weit entfernt fühlte. Er kam sich von seiner hohen Weißenwarte aus wie ein Pharisäer vor.“

"An Gott glaubte sie absolut"

Franzen entwickelt all diese Themen langsam und gemächlich, wie soll das bei der Länge seines Romans anders sein?, und ohne sie plakativ auszustellen. „Crossroads“ soll ausdrücklich kein Thesenroman sein.

Es geht um Drogen, denen nicht nur Perry zuspricht, um Sex, den Becky noch nicht hat und Clem in solch’ einem Ausmaß, dass er sein Studium nur halbherzig betreibt; es geht um pubertäre und postpubertäre Krisen, um moralische Verfehlungen und schicksalhafte Verstrickungen gerade bei Russ und Marion, um Aufbegehren und erste Seelenwellness, um Schuld und Sühne.

Alle fünf Hildebrandts halten häufig Zwiesprache mit Gott. In Konfliktsituationen geraten sie immer dann, wenn sich ihr Glauben und das moderne Leben nicht miteinander in Einklang bringen lassen, wenn die säkularen Sehnsüchte und das individuelle Streben Gott in die Quere kommen. Kurzum: Wenn Seine Gnade, um die ja auch Robert Johnsons lyrisches Ich fleht, ausbleibt. Von Erlösung keine Spur.

Neben den vielen Zwiegesprächen der Figuren mit sich und Gott sind die besten Passagen von „Crossroads“ jene, in denen Franzen jeweils die Herkunftsgeschichten von Russ und Marion erzählt. Er kommt aus einer streng gläubigen und hartherzigen Mennonitenfamilie und wirkt in Liebesdingen unerfahren; sie ist die Tochter eines Selbstmörders und einer egozentrischen Alkoholikerin und will in Hollywood Karriere machen, landet aber nur bei einem Gedichte schreibenden und die Literatur liebenden Autoverkäufer.

„An Gott glaubte sie absolut. Seine Gegenwart spürte sie jederzeit in und um sich herum. Gott war da“, heißt es über Marion gegen Ende. Die Wurzeln der Vereinigten Staaten von Amerika liegen in ihrer Religiösität, „God bless America“ war da nie nur eine Worthülse.

Doch die Wurzeln halten nicht mehr gut, das Vertrauen auf den göttlichen Schutz ist im Schwinden begriffen, und davon kündet Franzens Roman. Seine Güte macht nicht zuletzt aus, dass man ihn auch großartig finden kann, ohne jemals einen Gedanken an Gott verschwendet zu haben.

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