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Eine der Adamant-Bewohnerinnen

© Grandfilm

Der Berlinale-Gewinner „Auf der Adamant“ im Kino: Woraus wir gemacht sind

Schwimmende Insel, eingebunden in ein Netz medizinischer Einrichtungen: Nicolas Philiberts wunderbarer Film „Auf der Adamant“ erzählt von den Patienten und Passagieren eines Schiffes, das eine psychiatrische Tagesklinik beheimatet.

Von Kerstin Decker

Unter den Silbernen Bären der Berlinale finden sich oft Filme, die die man wirklich schwer übersehen konnte, aber im Falle des Goldenen Bären scheint der Ehrgeiz der Jury immer wieder dahin zu gehen, ein Werk zu prämieren, auf das nun wirklich keiner gekommen wäre.

Eine Jury ist schließlich eine gottgleiche Institution, zwar nicht unbedingt allgütig, allwissend vielleicht auch nicht, aber allmächtig. Der Goldene Bär 2023 ging also an „Auf der Adamant“. Es war der einzige Dokumentarfilm unter lauter Spielfilmen, er konkurrierte mit niemandem. Natürlich gibt es Dokumentationen, die unbedingt zu den Kunstwerken zählen, man denke nur an Peter Schamonis Film über Max Ernst oder Wim Wenders’ „Buena Vista Social Club“.

Ein sehr schönes Schiff

„Auf der Adamant“ von Nicolas Philibert („Sein und Haben“) fällt jedoch nicht durch Willen zur Eigen-Form auf. Er ist nicht Ko-Schöpfer des Universums, das er zeigt, er scheint es vielmehr zu registrieren. Und doch darf das in diesem Fall als Tugend gelten. Denn „Auf der Adamant“ ist ein Film über die Patienten - oder sollte man besser sagen: die Besucher, die Gäste, die Passagiere? - einer psychiatrischen Tagesklinik in Paris. Und die schwimmt. Ihre Holzjalousien öffnen sich am Morgen wie Augen.

Die Adamant ist ein Schiff, ein sehr schönes Schiff. Es handelt sich demnach um eine Arche für Menschen, die an Bord zwar nicht Rettung vor den Wassern draußen finden, aber wohl vor der immer wieder steigenden Flut in ihnen selbst, vor den nie ganz kontrollierbaren Pegelständen ihrer Psyche, die ihr mühsam befestigtes Ich hinweg spülen wollen. „Wir sind nicht gefährlich, wir sind labil“, sagt einer, der nicht ganz ungefährlich aussieht, um dann zu formulieren: „Wir haben ein Imageproblem.“

Nach diesem Film vielleicht ein viel kleineres. Schwer zu sagen, was fast zwei Stunden lang umwerfender ist: Die Bewohner der Adamant zu sehen und zu hören oder die Arche selbst. Aber sie gehören ja beide von Anfang an zusammen, die Patienten haben das wunderbare Holz-Clubschiff mitentworfen.

Kann schon sein, dass die UHNWI - die „ultra high net worth individuals“, Individuen mit ultrahohem Nettovermögen - die Adamant sofort chartern oder kaufen würden, aber das eben ist unmöglich. Sie gehört François und seinen Freunden, während die Psychiatrie ringsum auch in Frankreich abbaut und spart. „Gehört“ ist in diesem Fall kein Besitztitel, sondern er meint den realen Gebrauch, etwas also, das im Zweifel wirklicher ist als jedes Eigentumsrecht. Vielleicht hat die Jury der Berlinale doch eine nur scheinbar entlegene Entscheidung gefällt und mitten ins Zentralnervensystem unserer Gegenwart gezielt.

Es war verschiedentlich der Vorschlag zu hören, das Zeitalter, in dem wir leben, von „Anthropozän“ in „Kapitalozän“ umzubenennen. Bezeichnenderweise ist das ein französischer Vorschlag, so wie die Adamant ein französisches Schiff ist. „Kapitalozän“ bezeichne, wem die Welt gehöre, wer sie gestalte: und das sei eben nicht „der Mensch“, das sei die radikale Minderheit der UHNWI.

Die Besatzung der unverkäuflichen Adamant am Quai de la Rapée aber - mitten im Herzen von Paris, beste Wasserlage - besteht gewissermaßen aus lauter Gegen-UHNWI, aus Menschen also, die für die Gesellschaft schon längst nicht mehr in Betracht kommen: aus Ver-rückten. Diese Wahrnehmung ist wichtig: Es sind gerade nicht die Anderen, sondern Menschen, deren Koordinatensystem um Nuancen ver-rückt ist.

Zuhören ist alles

Und das Unglaubliche passiert: Je länger man den Leuten von der Adamant zuhört, desto sicherer weiß man, dass es weitaus mehr lohnt, inmitten dieser Menschen zu sein als etwa auf einer Party an Bord einer Superyacht. Dabei ist das Prinzip Schiff beide Male das Gleiche: der abgeschiedene, weltenthobene, der sichere Raum schlechthin.

Nennen wir sie also doch Passagiere, wie es auf Schiffen üblich ist. Passagier ist ohnehin jeder auf seiner Lebensreise, die nur eins garantiert: die völlig gewisse ungute finale Ankunft. Aber die Passagiere der Adamant kennen die Ufer des Todes schon zu Lebzeiten. Das wird nicht vordergründig deutlich, denn an Bord macht man alles, was andere Leute auch tun.

Schmerz macht klug

Gerade stand die Vorbereitung des 10. Jahrestags des schiffseigenen Filmclubs an: „8 1/h“, „Durch den Olivenhain“ und „Die amerikanische Nacht“ waren dabei. Jeder stellte „seinen“ Film vor, und man möchte darauf wetten, dass diese Erörterungen oft tiefer gingen als die professionellen Beschwerden der Kritiker. Denn sie verdanken sich Leiderfahrungen. Schmerz macht klug, er macht auch ganz gewöhnliche Menschen zu Philosophen, zu Akrobaten der Selbstreflexion, das spürt man immer wieder.

Es ist ein Wunder, dass die Adamant noch keine bordeigene Band hat, denn viele Cineasten hier sind zugleich Musiker, die ebenso gut auf einer Bühne stehen könnten. Und so fängt das auch an. Francois singt über die „menschliche Bombe“, der Zünder liege gleich neben dem Herzen. Francois und Mick Jagger: So groß ist der Unterschied nicht.

Doch Francois weiß: Dass er hier stehen, singen und reden kann, verdankt er allein den Medikamenten. Sonst hielte er sich für Jesus, aber nicht im friedfertigen Sinn. Und plötzlich ist da ein Blick, eine minimale Veränderung der Pupille, und man ahnt, wer dieser Francois auch sein kann. Leichte Fälle sind sie alle nicht, eher gehören sie zu den Unheilbaren. Da ist diese schwarze Frau, der ihr Sohn fortgenommen wurde, als er fünf war. Sie konnte, solange er bei ihr war, andere Menschen nur als feindlich empfinden. Diese Wunde heilt nicht, aber sie konnte lernen, mit ihr zu leben.

Szene auf der Admant...

© Grandfilm

So wenig diese Dokumentation im Berlinale-Wettbewerb mit den anderen Filmen konkurrierte, so wenig kann man ihn auf übliche Weise „besprechen“. Umso mehr lässt sich das unsichtbare Koordinatensystem, in dem er sich befindet, deutlich machen. Zumal es ein originär französisches Koordinatensystem ist.

Fast mutet „Auf der Adamant“ wie eine ultimative Widerlegung Foucaults an. In „Überwachen und Strafen“ enthüllte er das Projekt der Aufklärung eines ganz neuen Umgangs mit Kriminellen wie psychisch auffälligen Menschen als Illusion. An die Stelle grausamer Willkür sei in der verwalteten Welt die Universalisierung der Disziplinierung, des Zwangs getreten, die den Einzelnen ebenso wie zuvor auslösche, bloß teilnahmsloser jetzt.

Die Adamant dagegen scheint wie der wunderbar gelingende Versuch der Freigabe der Gefährdeten und ist dabei doch keine schwimmende Insel, sondern eingebunden in ein Netz von medizinischen Einrichtungen. Und dabei immer mit Blick aufs Wasser. Es ist wie eine Erinnerung an unser aller Herkommen. Man hat bereits vorgeschlagen, den Menschen als „aufrechtes Ufertier“ zu interpretieren, denn wir sind jagende und sammelnde Strand-Läufer, evolutionär gesehen. Der Wasser-Blick ist wie ein Stück Urheimat. Und die auf der Adamant haben vorerst ihr je eigenes Ufer wieder gefunden.

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