Comic-Erzählungen „Surwilo“ und „Eine Geschichte“: Wenn die Wunden des Krieges nicht verheilen
Neue Comics erzählen von traumatischen Zeiten – und zeigen, was passiert, wenn man sie verdrängt.
Dreißigjähriger Krieg, Erster Weltkrieg, Zweiter Weltkrieg – wer sich ernsthaft mit der europäischen Geschichte und seinen blutigen Tiefpunkten beschäftigt, für den ist „Nie wieder Krieg“ eine der offenkundigsten Lehren, die man aus der Vergangenheit ziehen kann. Wladimir Putin hat dies bekanntermaßen nicht getan; für ihn ist Geschichte lediglich ein Instrument, das für imperiale Wahngebilde missbraucht werden kann.
Umso wichtiger ist es, sie korrekt zu erzählen, was die zwei Neuerscheinungen „Surwilo – Eine russische Familiengeschichte“ (avant, 312 S., 28 €) von Olga Lawrentjewa und „Eine Geschichte“ (avant, 128 S., 28 €) von Gipi („Die Welt der Söhne“, „Aldobrando“) auf eindrucksvolle, wenn auch völlig unterschiedliche Weise tun: Beide Comics handeln von den Traumata des Krieges, von zerrissenen Familien und von den Schmerzen des Erinnerns.
Durch die Ereignisse in der Ukraine haben beide Werke traurige Aktualität gewonnen, insbesondere „Surwilo“, das nicht nur von belagerten Städten und leidender Zivilbevölkerung berichtet, sondern auch vom Stalin-Regime, das in Russland seit vielen Jahren als Vorbild für einen neuen Nationalismus verklärt und verharmlost wird.
„Surwilo“ gehört zu den wenigen Comics aus Russland, die bislang ins Deutsche übersetzt wurden: In ihm erzählt Lawrentjewa die Geschichte ihrer Mutter Walentina, die in den 30er Jahren in der Sowjetunion aufgewachsen ist. Da ihr Vater Pole ist, wird er aufgrund von antipolnischen Ressentiments zu Unrecht als Spion verhaftet und hingerichtet.
Seine Familie, die über sein Schicksal jahrelang im Unklaren gelassen wird, wird in Sippenhaft genommen und deportiert. Weil sie die Tochter eines „Volksverräters“ ist, bleibt Walentina trotz hervorragender Noten jeder soziale Aufstieg verwehrt.
„Ich habe für sie alle gelebt“
Dennoch überlebt sie den Hunger, den stalinistischen Terror und die Blockade von Leningrad, während ihre Familienangehörigen nach und nach sterben, bis nur noch sie übrig ist. „Ich habe für sie alle gelebt“, sagt Walentina. Diese Verluste und das traumatische Verschwinden des Vaters prägen ihr restliches Leben: Die quälende Angst, geliebte Menschen zu verlieren, begleitet sie bis zu ihrem Tod.
Lawrentjewa erzählt Geschichte ihrer Mutter mit überaus kraftvollen Schwarzweiß-Zeichnungen, die sich streckenweise zu einem expressionistischen Rauschen steigern: Immer wieder brechen die Panelränder auf, um in einen visuellen Bewusstseinsstrom überzugehen; Bäume, Züge, Wolken, Pfützen, Menschenmengen und Hände verschwimmen ineinander, so wie die Erinnerungen an lange Vergangenes oft miteinander verschwimmen, wenn die Details von Emotionen überflutet werden.
Der Schmerz seines Vorfahren
Auch den Protagonisten in Gipis „Eine Geschichte“ lässt die Vergangenheit nicht los: Der erfolgreiche Schriftsteller Silvano Landi arbeitet besessen an einem Buch über seinen Urgroßvater, der im Ersten Weltkrieg gekämpft hat und innerlich gebrochen daraus zurückgekehrt ist.
Landis beginnt den Schmerz seines Vorfahren zu kanalisieren, doch seine Familie zeigt dafür kein Verständnis und verlässt ihn. Diese Weigerung, sich mit der Geschichte auseinanderzusetzen, führt auch zum Zusammenbruch von Landis: Er landet mit Schizophrenie in einer Psychiatrie.
So wie „Surwilo“ versucht auch „Eine Geschichte“ den Prozess des Erinnerns in grafische Formen zu übersetzen: Um Landis’ fragmentierte Zeit- und Bewusstseinsebenen abzubilden, springt der Italiener Gipi ständig zwischen naturalistischen Schwarzweiß-Zeichnungen, Aquarellen und flüchtigen Skizzen hin und her und bringt dadurch das Unausgesprochene der Geschichte zur Sprache.
Beide Comics erzählen von unaufgearbeiteter Vergangenheit und von Traumata, die durch die Familiengeschichten hindurchgetragen werden und erst dann geheilt werden können, wenn man bereit ist, der schmerzhaften Wahrheit ins Gesicht zu schauen.
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