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Eine Szene aus „Roaming“ 

© Reprodukt-Verlag

Queere Coming-of-Age-Geschichte „Roaming“ : Fragile Freundschaften im Stresstest

Die Kanadierinnen Mariko und Jillian Tamaki zeichnen in ihrem dritten Gemeinschaftswerk ein vielschichtiges Porträt junger Frauen an der Schwelle zum Erwachsensein.

Von Heike Byn

Spring Break 2009: Dani und Zoe brauchen eine Auszeit vom Uni-Alltag und verbringen fünf Tage in New York. Die ehemaligen Highschool-Freundinnen studieren jetzt in verschiedenen Städten und hoffen, auf dem Trip wieder mehr Nähe aufzubauen.

Doch das will nicht so recht gelingen, denn Dani bringt Fiona mit, eine Kommilitonin an der Kunsthochschule. Die ist ein energiegeladener, egozentrischer Wirbelwind, der mit blonder Wallemähne und exaltierten Gesten nicht nur die Panel-Rahmen sprengt.

Trotz ihres divenhaften Auftritts ist Fiona aber auch klug, sensibel und nimmt die Anzeichen für Zoes noch zurückhaltendes Coming-out wahr. „Du hast dieses coole Lesben-Ding am Laufen“, sagt sie Zoe in einem der ruhigeren Momente einfach ins Gesicht. „Ich mag das Wort nicht. Aber – ja“, entgegnet Zoe.

Subtile Berührungen, heimliche Küsse

Zwischen der femininen Fiona und der androgynen Zoe entsteht eine Anziehungskraft, die mit subtilen Berührungen und heimlichen Küssen beginnt und bald in einer Intimität gipfelt, die Dani verletzt und weiter von Zoe entfernt. Die Dynamik der Liebesgeschichte droht damit nicht nur die Reise, sondern auch die Freundschaften zu gefährden.

„Roaming“ ist die dritte Zusammenarbeit der Cousinen Jillian und Mariko Tamaki.
„Roaming“ ist die dritte Zusammenarbeit der Cousinen Jillian und Mariko Tamaki.

© Reprodukt-Verlag

Jillian Tamakis ausdrucksstarke Illustrationen spiegeln die Auflösung des Trios wider, wenn die Panelstruktur geradezu explodiert und die jungen Frauen versuchen, sich wiederzufinden: Mal bewegen sie sich wie verloren durch das urbane Chaos von Manhattan, mal sind sie einander im kleinen Zimmer des Hostels geradezu ausgeliefert.

Preisgekrönte Gemeinschaftswerke

Trotz aller Traurigkeit über das Vergangene und Furcht vor dem Neuen feiert die Graphic Novel „Roaming“ (aus dem Amerikanischen von Matthias Wieland, Reprodukt, 448 S., 29 €) aber vor allem die Jugend: Wie aufregend es ist, zum ersten Mal begehrt zu werden. Wie aufregend, jung zu sein, neue Orte und Aspekte des Selbst zu entdecken und alles unglaublich intensiv zu erleben. Die Story fängt ihre Figuren damit in einem wichtigen und starken Moment der Veränderung im Leben präzise ein.

Das Skript und die Illustrationen, hier eine weitere Seite aus dem Buch, haben die beiden Cousinen zusammen entwickelt. 
Das Skript und die Illustrationen, hier eine weitere Seite aus dem Buch, haben die beiden Cousinen zusammen entwickelt. 

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„Roaming“ ist die dritte Graphic-Novel-Zusammenarbeit der preisgekrönten Künstlerinnen und Cousinen Mariko und Jillian Tamaki nach „Skim“ (Reprodukt, 2019) über eine queere Gothic-Teenagerin und „Ein Sommer am See“ (Reprodukt, 2015) über zwei Preteen-Cousinen.

Eingeschränkte Kommunikation

Während bei diesen Gemeinschaftswerken Mariko geschrieben und Jillian illustriert hat, entstand „Roaming“ in einem organischen Prozess, bei dem die beiden das gemeinsame Drehbuch und Jillians Illustrationen zusammen entwickelten.

Gedämpfte, melancholisch anmutende Pastelltöne prägen den Look des Buches.
Gedämpfte, melancholisch anmutende Pastelltöne prägen den Look des Buches.

© Reprodukt-Verlag

Der Buchtitel funktioniert hier auf zwei Ebenen: Die Heldinnen sind im Jahr 2009 durch die begrenzte Leistungsfähigkeit von Handys und Mobilfunknetzen in der Kommunikation eingeschränkt: Als Dani alleine loszieht, um dem verliebten Pärchen Zoe und Fiona zu entfliehen, ist sie nicht erreichbar, weil sie die teure Roaming-Funktion ausgeschaltet hat. Die Nicht-Kommunikation steht aber auch für die Unfähigkeit von Dani und Zoe, über Zoes Queerness und Danis Gefühl der Ausgeschlossenheit offen zu sprechen.

Gigantische Kulisse

Mit gedämpften, melancholisch anmutenden Pastelltönen in Pfirsich, Rauchblau sowie kontrastierendem Weiß und Schwarz fängt Jillian Tamaki die Gefühlswelten ein. Der Maßstab Manhattans wirkt hier geradezu gigantisch im Verhältnis zu den dort umherstreifenden, zutiefst verunsicherten jungen Frauen. Dazu verschmelzen hier und da Realität und subjektive Wahrnehmung metaphorisch miteinander, um besonders emotionale Momente eindringlich zu schildern.

So, wie die Heldinnen im aktuellen Werk den Übergang ins Erwachsenenalter vollziehen, haben sich auch die Künstlerinnen auf dramaturgischer und künstlerischer Ebene weiterentwickelt: Ging es bisher bei ihnen um Kinder und Jugendliche, porträtieren sie jetzt junge Frauen an der Schwelle zum Erwachsensein.

Jillian Tamakis Stil hat sich zudem von der oft überbordenden Pinselführung hin zu klareren Linien verändert. Bleibt aber üppig, atmosphärisch dicht und präzise. Mit „Roaming“ haben die Tamaki-Cousinen so erneut bewiesen, dass sie zu den aufregendsten Stimmen der internationalen Comic-Szene gehören, die sich ebenso empathisch wie ernsthaft queeren Themen annehmen.

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