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Inbegriff eines Zeitalters, Tamara de Lempickas „Frau im blauen Kleid“ (1933)

© VG Bild-Kunst, Bonn 2023, Foto: Villa La Fleur

Bundeskunsthalle Bonn: Die katzengoldenen zwanziger Jahre

Die Kuratorin Agnieszka Lulinska inszeniert ein fast politikfreies „Kaleidoskop der Moderne“

Man muss sich gelegentlich ins Bewusstsein rufen, dass die Weimarer Republik gerade einmal 14 Jahre dauerte, von 1918/19 bis Anfang 1933, und die gern als „golden“ bezeichneten Zwanziger noch weniger. Und doch lebt eine nicht endende Produktion von Büchern, Filmen, Fernsehserien von der Vorstellung, dass dies eine Epoche voller Kreativität und Lebensgier gewesen sei, die auch ein Jahrhundert später noch Überraschungen bereithält.

Das jedenfalls tut die Bundeskunsthalle Bonn mit ihrer Ausstellung „1920er! Im Kaleidoskop der Moderne“. Kuratorin Agnieszka Lulinska, seit vielen Jahren am Haus, fügt den inzwischen Aberdutzenden von Überblicksausstellungen zu den zwanziger Jahren nicht einfach eine weitere hinzu, sondern geht die Epoche auf ganz eigene Weise an. Die drei Hauptthemen „Metropolen“, „Menschenbilder“, „Lebenswelten“ überraschen nicht; was aber überrascht, ist die weitgehende Ausblendung der politischen Ereignisse.

Das mag auf den ersten Blick fahrlässig wirken, hat man doch gelernt, die Zwanziger als politisch zerrissen wahrzunehmen. Aber es hat den Vorteil, kulturelle Vorgänge in ganz Europa (und darüber hinaus) als einen großen Strom mit Nebenarmen zu erfassen, als etwas, das stärker und auf lange Sicht prägender war als die politischen Krisen und Katastrophen.

Gesamtbild der Epoche

Agnieszka Lulinska verfügt über eine genaue Kenntnis der Vorgänge in Osteuropa, und die Länder, die zwischen dem ruhelosen Deutschen Reich und der ebenso ruhelosen Sowjetunion eingezwängt waren, haben so viel beizutragen zum Gesamtbild der Epoche, wie es selten zuvor in einer Ausstellung zu sehen war.

„Neu“ ist das Stichwort der Zeit. „Neu“ wurde zum Wert an sich. Vor allem Mann und Frau gestalteten sich neu, und so ist das Kapitel „Menschenbilder“ das stärkste der Ausstellung, mit einer Fülle neuer (Selbst-)Darstellungen.

Der Starfriseur Antoine Cierplikowski, aus Polen nach Paris gegangen, gibt mit dem von ihm erfundenen „Bubikopf“ der Epoche ihr Erkennungszeichen. Karl Hofer malt die „Tiller-Girls“ mit Kurzhaarfrisur, selbst der Grandseigneur Max Liebermann die Gesellschaftsdame Genia Levine. Dazu die Mode und die Stoffe, ob von Lucien Lelong, Sarah Lipska oder Ljubow Popowa, ob West oder Ost. Sonia Delaunay, aus Russland gebürtig und in Paris zur Künstlerin gereift, verschmilzt Kunst und Mode zum Gesamtkunstwerk. Die kühl konstruierten Frauenbildnisse der Tamara de Lempicka wechseln umstandslos auf die Titelseiten führender Zeitschriften.

Der neue Mann ist eher Rugbyspieler, gemalt von Max Beckmann, Fußballer beim überzeugten Kommunisten Alexander Deineka, oder Boxer wie auf den Fotografien von Franz Diener, der in Berlin ein von Literaten wie Bertolt Brecht frequentiertes Lokal eröffnet. Oder er hört Radio, gemalt 1923 von Max Radler, als der Rundfunk eben sein Programm aufnimmt. Oder er spielt in einer Jazzband, beobachtet von George Grosz, von Franz Masereel, von Bettina Ehrlich-Bauer, die wiederum sich auf die Oper „Jonny spielt auf“ bezieht, den Welterfolg des gerade 26-jährigen Wieners Ernst Krenek .

Ins Utopische fortgerissen

Möglich wird all das durchs Tempo der Großstadt; fotografiert von Germaine Krull (Paris), Alexander Rodtschenko (Moskau) oder László Moholy-Nagy (Berlin); gemalt von Carl Grossberg und montiert von Paul Citroen. Und ins Utopische fortgerissen von Kasimir Malewitsch oder von El Lissitzky, der zugleich einen Blick für das schon Machbare besaß und Fotobücher über „Neues Bauen in der Welt“ herausgab.

Nur in der Großstadt – und da schließt sich der thematische Kreis – sind die „Lebenswelten“ möglich, die die Ausstellung ausleuchtet. So die Auflösung der Geschlechterrollen, nirgends so weit gediehen wie in Berlin, der Hauptstadt eines seelisch zerstörten Landes und darum im Neuen so mutig mit Mies van der Rohes Glas-Hochhaus, das freilich ungebaut blieb, oder den minimierten Stahlrohrmöbeln, die sich die kulturelle Elite zulegt wie Theaterregisseur Erwin Piscator.

„Globalisierung, Geschwindigkeit, Experimentierlust“ sind nur drei der Schlagworte, die die Ausstellung aufruft und zu denen sie ein Feuerwerk an Bildern, Fotografien, Objekten abbrennt – und direkt am Eingang, unübersehbar, ein (restaurierter) Rennwagen von Bugatti „Typ 35 C“. Nur einmal wird es bitterernst: wo die buchstäbliche Montage der Körper gezeigt wird, der Kriegsinvaliden mit Hilfe neuentwickelter Prothesen, die ihren Trägern repetitive Tätigkeiten ermöglichen.

Da wäre das Tor hin zur Politik, das die Kuratorin gerade nicht durchschreitet. Sie bleibt beim Neuen, beim „Kaleidoskop der Moderne“ des Untertitels, bei ihrer Ästhetik und beim Schein. Aber es war ein schöner Schein, den diese goldenen und vielleicht nur katzengoldenen 1920er Jahre verbreiten. Bis auf den heutigen Tag.

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