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Joe Biden (l.-r.), Präsident der USA, und Jens Stoltenberg, Nato-Generalsekretär, begrüßen Wolodymyr Selenskyj, Präsident der Ukraine, beim Nato-Ukraine-Treffen während des Nato-Gipfels. (Archivfoto)

© dpa/Kay Nietfeld

Militärstratege zum Kriegsverlauf: Wie der Westen der Ukraine jetzt effektiv helfen kann

Die Meldungen zu den Aussichten der ukrainischen Gegenoffensive waren zuletzt widersprüchlich. Ein Militärstratege erklärt nun, was der Westen tun müsste, um die Ukraine besser zu unterstützen.

Dass Kriege dynamisch verlaufen, betonen Experten immer wieder. Dennoch hätten die Meldungen zum Kriegsverlauf in der Ukraine zuletzt kaum widersprüchlicher sein können. Das gilt nicht minder für die Einschätzungen zu den Erfolgschancen der ukrainischen Gegenoffensive. Nachdem es für längere Zeit kaum Bewegung gegeben hatte an der Front, mehrten sich bei nicht wenigen die Zweifel, ob dieser Krieg für die Ukraine zu gewinnen ist.

Nach dem wochenlangen Stillstand gab es zuletzt nun aber erstmals wieder Erfolgsmeldungen. Die ukrainischen Streitkräfte konnten im Süden vorrücken und etwa den kleinen Ort Robotyne einnehmen, südlich von der Stadt Orichiw gelegen. Damit gelang der Ukraine in ihrer Gegenoffensive ein wichtiger Teilsieg: Erstmals konnte im Süden ein Abschnitt der 800 Kilometer langen russischen Verteidigungslinie dauerhaft überschritten werden.

Auch an anderer Stelle, einige Kilometer südostlich in Richtung des Ortes Werbowe, gab es Bewegung. Laut Berichten, die auf geolokalisierte Videos verweisen, gelang es dem ukrainischen Militär zeitweise, die russische Hauptverteidigungslinie nördlich von Werbowe zu durchbrechen.

Und an diesem Montag sagte die ukrainische Vize-Verteidigungsministerin Hanna Maljar im Staatsfernsehen, das ukrainische Militär habe weitere Erfolge gegen die russischen Streitkräfte entlang der südlichen Front in der Nähe von Nowodanyliwka und Nowoprokopiwka erzielt.

Drohnenangriffe auf Russland

Immer öfter setzt die Ukraine nun außerdem auf Drohnenangriffe auf russischem Territorium. So gab es etwa in der vergangenen Woche Angriffe auf den russischen Militärflughafen Pskow. Zwei Transportflugzeuge seien zerstört, mindestens acht weitere beschädigt worden, hieß es.

Kiew wird viele Monate brauchen, um sie zu schlagen und sie von dem rund 18 Prozent umfassenden ukrainischen Territorium zu vertreiben, das sie rechtswidrig besetzen.

Mick Ryan, Militärstratege über die russischen Truppen in der Ukraine

Andererseits macht schon die Dimension der 800 Kilometer langen Verteidigungslinie klar, wie schwer es werden dürfte, sämtliche von Russland besetzten Gebiete im Südosten der Ukraine zurückzuerobern.

Hinzu kommen die enormen Minenfelder vor der Frontlinie und die deutliche Überlegenheit Russlands in der Luft, während beispielsweise F16-Kampfjets für die Ukraine aus dem Westen laut der Aussage des gerade erst abgesetzten ukrainischen Verteidigungsministers Olexij Resnikow erst im kommenden Frühjahr einsatzbereit sein sollen. Wie also kann es nun weitergehen? Was kann der Westen tun, um der Ukraine effektiv zu helfen?

Ein langer Krieg

Der Militärstratege und australische Ex-General Mick Ryan, der am Center for Strategic and International Studies lehrt, schreibt in einem aktuellen Beitrag für das Außenpolitik-Magazin „Foreign Affairs“, der Westen müsse akzeptieren, dass der Krieg sich noch lange hinziehen werde.

Zwar hätten die Russen im Verlauf des Krieges strategische Fehler begangen, doch hätten sie inzwischen dazugelernt. „Kiew wird viele Monate brauchen, um sie zu schlagen und sie von dem rund 18 Prozent umfassenden ukrainischen Territorium zu vertreiben, das sie rechtswidrig besetzen“, schreibt er.

Er fordert den Westen auf, explizit das Ziel eines ukrainischen Sieges durch eine russische Niederlage auszugeben. Indem der Westen sich verpflichte, die Ukraine für die Dauer des Krieges zu unterstützen, könne der Westen Putins Kriegsbemühungen untergraben. Darüber hinaus gebe eine solche Verpflichtung auch jenen Geberländern Sicherheit, die etwa für die notwendigen Forschungs- und Entwicklungsarbeiten zur Drohnen- und Minenabwehr der Ukraine sorgen können.

An die Adresse der Nato gerichtet, empfiehlt der Militärstratege eine Neubewertung ihrer Militärdoktrin. Es sei nun nötig, eine Strategie zu entwickeln dafür, dass die Ukraine verschiedene Waffen – ob aus der Luft oder vom Boden – nur sehr spärlich und vereinzelt einsetzen kann. „Das bedeutet, dass die westlichen Staaten gemeinsam einen Weg finden müssen, wie sich Bodenkämpfe in einem Umfeld führen lassen, in dem es häufige Luftangriffe gibt“, schreibt er.

Problem der russischen Minenfelder

Ryan kommt auch auf das Problem der russischen Minenfelder zu sprechen. Er spricht von einem Versagen der westlichen Militärdoktrin, weil solche „dichten Minenfelder“ in Kriegen kein neues Phänomen seien. Es brauche rasch neue Methoden, um Minen aufspüren und räumen zu können.

Ryan hält für die Erforschung dessen ein neues „Manhattan-Projekt“ für nötig. Immerhin müssten nach der Befreiung der derzeit besetzten Teile der Ukraine große Gebiete von Minen und nicht explodierten Sprengkörpern gesäubert werden.

Als wichtig bewertet Ryan überdies, der Ukraine standardisierte Waffen und Ausrüstung zu liefern. Schon in Friedenszeiten sei der Ausbildungs- und Logistikaufwand hoch, der mit dem Besitz mehrerer ähnlicher Waffensysteme einhergehe. In Kriegszeiten werde er für die Ukraine mit zunehmender Dauer untragbar werden, so Ryan.

Zugleich müsse der Westen das militärische Personal der Ukraine umfassender schulen, zusätzliche Unterstützung leisten. Es reiche nicht, die Armee nur im Umgang mit gelieferten Waffensystemen zu unterweisen. Notwendig sei eine kollektive Ausbildung der Armee. Nur dann wäre das ukrainische Militär mit der Zeit in der Lage, größere Operationen über Zeit und Raum hinweg zu organisieren, glaubt er.

Mit einer solchen Strategie, schreibt er weiter, könnte der Westen Kiew rascher Unterstützung zukommen lassen. Denn die Langsamkeit der Lieferungen sei bislang eines der größten Probleme der Ukraine gewesen. Immer wieder hat es in der Vergangenheit monatelang gedauert, bis der Westen entschied, Panzer, Luftabwehrsysteme und Kampfflugzeuge an die Ukraine zu liefern.

Das ukrainische Militär habe jedoch wieder und wieder unter Beweis gestellt, wie schnell und innovativ es mit neuen Waffensystemen umgehen kann. Die Ukraine brauche nun die Gewissheit, dass der Westen in der Lage ist, sie dauerhaft zu unterstützen.

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