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2014 mussten zehntausende Jesiden im Irak vor dem IS fliehen.

© REUTERS/Rodi Said

Jesidinnen im Irak : Vom IS getötet, verscharrt und verschleppt

In Sindschar fliehen Jesidinnen seit Jahren vor den Gräueltaten des Islamischen Staates. Tausende wurden ermordet oder werden vermisst, wenige kehren zurück. Ein Besuch in Sinun.

Er nennt sie Töchter der Sonne, wenn Mirza Dinnayi von den Jesidinnen Sindschars spricht. Sie hätten so vieles erdulden müssen, seien brutal von den Schurken des Islamischen Staates (IS) gepeinigt worden.

Auf dem extra für Jesidinnen eingerichteten Sklavenmarkt habe man sie in Mossul verkauft wie Vieh, weiß Dinnayi. Noch immer würden etwa 3.000 Frauen vermisst und sie wüssten nicht, wo sie sind.

Nach Angaben der UN wurden 5.000 bis 10.000 Jesiden ermordet und über 7.000 jesidische Frauen und Kinder, meistens Mädchen, entführt. „Es gibt keine Familie hier, die nicht Mitglieder verloren hat.“

Tausende flohen, als IS-Milizen Sindschar besetzten

Mirza hat 2020 das Begegnungszentrum HOC in Sinun gebaut, in einer der elf Gemeinden in der Region Sindschar. Für seine Verdienste hatte der 50-Jährige den Aurora-Preis bekommen, eine internationale Auszeichnung zur Förderung der Menschlichkeit. Mit dem Preisgeld hat er HOC errichtet und den Frauen einen Brunnen gewidmet.

Mirza Dinnayi hat das Begegnungszentrum HOC gebaut.

© Foto: Svensson

„Für die Töchter der Sonne“, steht auf einer Gedenktafel. „Die Sonne ist wichtig für uns Jesiden, sie bestimmt unseren Alltag und unsere Kultur“, informiert Dinnayi. Dadurch ist für Jesiden eigentlich am Mittwoch Feiertag, da Gott in der Genesis die Sonne an einem Mittwoch erschaffen hat. „Der Mittwoch ist uns heilig.“

Ein Sturm fegt mit gewaltiger Kraft über Sindschar hinweg. Der Winter kämpft mit dem Sommer und man gewinnt den Eindruck, dass dieser Kampf gerade hier mit aller Härte ausgetragen wird. Der noch junge Olivenbaum, den die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock bei ihrem Besuch neulich im Garten des HOC (House of CO-Existence) pflanzte, hat Not standhaft zu bleiben.

Einige Blumen, die noch keine Wurzeln schlagen konnten, werden jäh aus dem trockenen Boden gerissen. Auch hier, wie überall im Irak, fehlt es an Wasser. „Es war noch dunkel, als der IS über uns herfiel“, erzählt Dalia im HOC über den Horror am 3. August 2014. „Sie kamen vom benachbarten Tal Afar.“

In den Gemeinden, die im Süden Sindschars liegen, richteten die Dschihadisten sofort ein Gemetzel an. Nur wenige konnten fliehen. Die meisten wurden getötet, in Massengräbern verscharrt oder verschleppt.

3.000
jesidische Frauen werden noch immer vermisst.

Sinun hatte Glück im Unglück. PKK-Kämpfer, die im Ort wohnten, hätten die Leute gewarnt, sie sollten schnell fliehen, alles stehen und liegen lassen. „Nichts wie weg.“ Von der PKK begleitet, kamen Dalia und ihre Familie in die sicheren Kurdengebiete nach Dohuk. „Die haben uns das Leben gerettet“, sagt sie heute.

Nur ein Drittel sind zurückgekehrt

Die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) ist eine kurdische Untergrundorganisation, die sich militanter Methoden bedient und von der Türkei, der EU und auch den USA als Terrororganisation gelistet wird. Ihren Ursprung hat sie in den kurdischen Siedlungsgebieten innerhalb der Türkei.

Der türkische Präsident Erdogan bekämpft sie mit eiserner Härte und lässt die türkische Armee immer wieder ihre Stellungen auch im Irak bombardieren. Die Amerikaner nennen die PKK im Sindschar YPG, weil sie zu ihren Verbündeten im Kampf gegen den IS zählten. „Das ist Quatsch“, sagen die Jesiden, „es gibt keinen Unterschied“.

Es gibt keine Familie hier, die nicht Mitglieder verloren hat.

Mirza Dinnayi, Gründer und Leiter des Begegnungszentrums HOC.

Sindschar ist ein weitläufiger Distrikt in der Provinz Nineve: 65 Kilometer lang, 40 Kilometer breit. Dazwischen sind Berge, wohin viele Jesiden vor dem IS geflohen sind. Sinun liegt neun Kilometer von der syrischen Grenze entfernt. Als die Dschihadisten die Kleinstadt unter ihre Kontrolle brachten, war sie leer, ihre Bewohner waren alle geflohen.

Eine Straße in Sinun ist behängt mit Fotos von getöteten PKK-Kämpferinnen und Kämpfern.

© Foto: Svensson

Die Terrormiliz wurde 2016 aus der Stadt und der gesamten Region Sindschar vertrieben. Trotzdem sind nur wenige Einwohner zurückgekehrt. Mirza Dinnayi spricht von einem Drittel. Vor allem Frauen sieht man kaum. Viele sind nach Deutschland ausgereist, nach Baden-Württemberg, das großzügig Jesidinnen aufnahm, um sie mit ihren Traumata nicht alleine zu lassen. Andere sind noch in den Camps in Irak-Kurdistan, wo sie vor gut acht Jahren Zuflucht fanden.

Dann geht die Tür zum HOC auf und herein kommen zwei Hochzeitspaare. Das passiere ständig, sagt Dinnayi. „Die wollen sich auf unserer Treppe fotografieren lassen.“ Es gäbe sonst kein gutes Motiv für Hochzeitsfotos in Sinun.

Der Hauptgrund, warum so wenige Jesiden und vor allem Jesidinnen nach Sindschar zurückgekehrt seien, behaupten die Besucher des HOC, „sind die unsicheren politischen Verhältnisse“.

Ein jesidisches Hochzeitspaar lässt sich auf der Treppe des Begegnungszentrums HOC fotografieren.

© Foto: Svensson

Als Knotenpunkt der Handelswege zwischen Irak und Syrien wollen viele das Gebiet kontrollieren: die vom Iran dominierten Schiitenmilizen der Volksmobilisierungsfront Hashd al Shabi, die irakische Armee, die PKK und die kurdischen Peschmergakämpfer, die alle Sindschar vor sieben Jahren befreit haben.

Die Zentralregierung in Bagdad und die kurdische Autonomieverwaltung in Erbil haben zwar schon im Oktober 2020 einen Plan zur Kontrolle des Gebietes im äußersten Nordwesten Iraks ausgearbeitet, aber davon ist bis jetzt nichts verwirklicht worden. Man habe über ihren Kopf hinweg entschieden, heißt es in Sindschar, die Jesiden seien nicht gefragt worden. Ihnen schwebt eine Selbstverwaltung vor.

Schwierige Integration versklavter Frauen

Ein weiterer Grund, warum vor allem Frauen zögern, nach Sindschar zurückzukehren, ist die Haltung der jesidischen Männer ihnen gegenüber, sagt Nadia, die Schwester des Hochzeitspaares. Zwar habe man erreicht, dass Mädchen, die vom IS gekauft und missbraucht wurden, wieder in die Gemeinschaft aufgenommen werden.

Wenn sie aber Kinder von einem IS-Kämpfer haben, gelten sie als geächtet und sind verstoßen. Mirza Dinnayi und andere haben versucht, auch diese Frauen wieder zu integrieren, ohne Erfolg.

Baba Scheich, der oberster religiöse Würdenträger der Jesiden sei zwar einverstanden gewesen, weiß Dinnayi, der Hohe Rat der Jesiden habe dies aber abgelehnt. Nicht wenige Töchter der Sonne bleiben so im Dunkeln.

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