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Helga Emma Paula Sagar

© privat

Nachruf auf Helga Emma Paula Sagar: „Ich springe im Quadrat!“

Man würde gern von einer großen Liebesgeschichte sprechen, aber damit würde man der Sache kaum gerecht.

Von David Ensikat

Mit 43 zog sie wieder nach Berlin, 6000 Kilometer westwärts. Man kann nicht sagen, dass sie heimkehrte. Denn das Haus in Tegel gab es zwar noch, die Eltern wohnten auch noch immer dort, aber dahin zog sie nicht. Die Eltern waren alt und krank, das war ein Grund, weshalb Helga wieder nach Berlin zog. Auf keinen Fall aber zu ihnen.

Dabei hatte sie als Kind und Jugendliche so ein Glück gehabt. Ein wohlhabendes Elternhaus, der Vater nicht an der Front, das Haus mit großem Garten, das von den Bomben nicht getroffen wurde. Als ihre Schule samt aller Schüler nach Böhmen evakuiert wurde, musste sie nicht mit, sondern wurde in Berlin privat weiterunterrichtet. Nach dem Krieg das Abitur und in den schweren Aufbaujahren gleich ein Studium. Sogar ein kurzer Aufenthalt im Ausland, der ihr Leben verändern sollte.

Die Eltern aber waren nicht imstande, ihrem einzigen Kind mit Liebe zu begegnen. Sobald sie groß genug war, musste Helga im Haushalt helfen, und nie war es genug. Wann immer etwas schiefging, wurde ihr die Schuld gegeben. Ein Gefühl, das blieb: Es könnte was passieren, und ich bin’s gewesen.

Vidya: wie sie auf der Flucht vor den Dämonen

Sie war 20, als sie für einen Monat nach England durfte. Eigentlich ging es um die Sprache, für sie aber ging es um so viel mehr: Fort von zuhause, ganz für sich selbst einstehen. Dazu gehörte auch die Arbeit auf einem Kartoffelacker, die nicht der Rede wert wäre, wenn sie auf dem Acker nicht Vidya kennen gelernt hätte, Vidya Sagar aus Indien, fünf Jahre älter als sie, ebenso wie sie auf der Flucht vor den Dämonen seiner früheren Jahre.

Man würde gern von einer großen Liebesgeschichte sprechen, aber damit würde man der Sache kaum gerecht. Die Tochter und der Sohn der beiden erzählen liebevoll von ihren Eltern; von einem Liebespaar erzählen sie nicht. Eher von zwei Menschen, die einander brauchten, und die füreinander da waren, selbst in den vielen Jahren, die sie mehr ohne- als miteinander zubrachten.

Vidya Sagar entstammte einer einfachen pakistanischen Hindufamilie. Auf einer dramatischen Flucht mussten sie das muslimische Land verlassen. Er fand Gönner, die ihm eine Schulbildung in Indien und ein Studium in England ermöglichten.

Als Helga 1950 wieder in Berlin war, schrieben sie einander Briefe; sie besuchte ihn noch zwei Mal dort. Die Reaktion ihrer Eltern, als sie erfuhren, wen Helga erwählt hatte, war zeitgemäß: Wie sieht der denn aus? Du wirst Zebrakinder kriegen! Woraufhin sie umso entschlossener war: Mit ihm würde sie der Elternwelt entkommen.

Zunächst kam er nach Berlin, um hier zu promovieren, doch zwei Jahre darauf, 1955, machten sich die beiden auf den Weg nach Indien. Dass sie dort heiraten konnten, war nicht selbstverständlich. Ein neues Gesetz erlaubte gerade erst die Ehe zwischen einem Hindu und einer Christin. Entsprechend provisorisch war der Ablauf. Ein Strafrichter, der gerade Zeit hatte, Muslim übrigens, vollzog den Rechtsakt.

Ungewöhnlich für so wohlhabende Leute

Vidya machte sich daran, eine Anwaltskanzlei zu gründen; noch vor ihm verdiente Helga das erste Geld. Sie fertigte Übersetzungen an, eine Arbeit, die sie auch später für die Kanzlei noch leisten sollte. Außerdem kümmerte sie sich um die Buchhaltung der schnell wachsenden Firma.

Das tat sie auch noch, als sie sich um die beiden Kinder kümmerte – was sie durchaus aus der Hand hätte geben können. Aber sie hatte gehört, dass indische Kindermädchen den Schlaf der Kleinen zuweilen förderten, indem sie ihnen Opium in die Ohren strichen. Auch sonst ließ sie sich nur ungern im Haushalt helfen – eher ungewöhnlich für so wohlhabende Leute, wie sie es bald waren.

Als ihre Eltern sie 1965 in Neu Delhi besuchten, nahmen sie die Bürgerlichkeit der Verhältnisse überrascht zur Kenntnis. So schlecht schien ihr Mädchen es ja nicht getroffen zu haben. Dass der Mercedes 180, der da vor dem Haus stand, günstig von der polnischen Botschaft erworben worden war, erfuhren sie nicht.

Und dann also, 1973, der Umzug nach Berlin, Helga und die Kinder. Vidya blieb in Indien, besser gesagt: er blieb in der Welt. Reiste von Kontinent zu Kontinent, denn er vertrat große Firmen, die in Indien Geschäfte machten. Und immer wenn das möglich war, beinahe monatlich, machte er Zwischenstopp bei der Familie in Berlin. Er tat sein Bestes, scheiterte beim Versuch, die pubertierenden Kinder zu disziplinieren, und scheiterte ebenso beim Verwöhnen seiner Frau. Er lud sie in die besten Restaurants ein, doch sie verließ so ungern ihre Wohnung. Dort entsprachen die Ordnung und die Regeln ihren Vorstellungen. Dort machte sie nichts falsch. Die Angst, diesen oder jenen Fehler zu begehen, einst von den Eltern eingeimpft, blieb in ihr bis zuletzt.

Helga und Vidya blieben ein Ehepaar, bis dass der Tod sie schied. Sie telefonierten jeden Tag, wobei die Hälfte des Gesprächs stets der Terminfindung fürs nächste galt. Vidya war halt unterwegs, und Helga beschwerte sich, dass es ausschließlich um seine Termine ginge, dabei war sie überzeugt: „Ich springe immerzu im Quadrat!“

Ihre beiden Kinder verließen Berlin, so schnell es ging – nicht, um ihrer Mutter zu entfliehen, sondern der Stadt. In Indien aufgewachsen, kamen sie mit der grauen Kälte nicht zurecht. Der Sohn, Hemant, wurde ein angesehener Modeschöpfer in Frankreich und Indien, die Tochter, Rosemary, erfolgreiche Geschäftsfrau in den USA. Ihr Kontakt zur Mutter blieb so eng, wie das eben möglich war bei den Distanzen. Dem Sohn brachte Helga einen Topf Kartoffelsalat nach Paris – damals ging das mit dem Flugzeug noch. Ihrer Tochter Rosemary half sie in New York mit den Kindern, als deren Vater sich verabschiedet hatte. Hemant lud sie immer in sein Haus auf Mallorca ein, Rosemary machte mit ihr viele Urlaube. Wenn sie nicht in der weiten, ungeordneten Welt war, bewahrte sie die Ordnung in ihrer kleinen Welt daheim.

Vidya, ihr Mann, ist vor zwölf Jahren gestorben. Das schien ihr keinen tiefen Schlag versetzt zu haben. Als ihr Gedächtnis langsam schwand, erzählte sie aber hin und wieder, dass er sie besucht habe, und dass sein Lächeln schön gewesen sei.

Jetzt, da sie gestorben ist, sind ihre Kinder nach Berlin gekommen und haben sie beerdigt und haben ihre Geschichte erzählt mit Hochachtung und Liebe. Sie hatte sich vorgenommen, mit ihnen ganz anders umzugehen, als ihre Eltern das mit ihr getan hatten. Das ist ihr offenbar gelungen.

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