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Ein Stator im Dynamowerk von Siemens in Berlin. Der Elektronikkonzern hat rund 10 000 Industriebeschäftigte in der Stadt.

© imago/photothek

Neuer IG Metall-Chef für Berlin: Ein Visionär aus Bautzen

Die Metallgewerkschaft stellt sich neu auf: Birgit Dietze wird Bezirksleiterin und Jan Otto kommt aus Ostsachsen nach Berlin.

Wenn ein neuer Chef im Anmarsch ist, kommt das häufiger vor: die Vorbehalte sind größer als die Vorfreude. In der Berliner Gewerkschaftsszene stellt man sich auf anstrengende Zeiten ein, denn aus Bautzen kommt ein Mann in die Stadt, den einige gerne verhindert hätten. Jan Otto, Leiter der IG Metall in Ostsachsen, soll am 8. September zum Nachfolger von Birgit Dietze gewählt werden. Dietze selbst führt die Berliner Metaller erst seit 2019 und steigt auf zur Bezirksleiterin von Berlin, Brandenburg und Sachsen. „Was wir in Berlin brauchen, sind industrie- und tarifpolitische Kompetenzen“, sagt Dietze. „Jan Otto bringt die mit und er verbindet Emotion und Handeln.“

Jan Otto, in Köpenick geboren, kommt zurück nach Berlin - sofern in die Delegiertenversammlung der IG Metall am 8. September wählt.

© André Wirsig

Das klingt gut. Anderen geht der forsche Auftritt des 39-Jährigen aus Bautzen auf die Nerven. Im Berliner Ortsvorstand der IG Metall ging es deshalb drunter und drüber: Manche waren für Otto, andere für eine Bundesjugendsekretärin des Deutschen Gewerkschaftsbunds (DGB), die dann aber – auch mithilfe von Dietze – ihre Bewerbung zurückzog. Damit ist der Weg frei für Otto an die Spitze der Berliner IG Metall mit ihren knapp 35 000 Mitgliedern.

Otto ist Lokführer

Otto ist rumgekommen. In Köpenick geboren und in Marzahn aufgewachsen, Ausbildung zum Lokführer bei der Deutsche Bahn, Mitglied der Eisenbahnergewerkschaft EVG, dann bei der IG Metall gelandet und an der Küste und in Leipzig an Projekten beteiligt zur Organisation von Leiharbeitern und Werkvertragsarbeitnehmern. Seit 2015 ist Otto Erster Bevollmächtigter – so nennt die IG Metall die Chefs ihrer 155 Verwaltungsstellen. In Görlitz gewann Otto Profil, Aufmerksamkeit und Mitglieder im Kampf um die Görlitzer Werke von Siemens und Bombardier. Vor fünf Jahren habe die IG Metall in Sachsen rund 4000 betriebliche Mitglieder gehabt, heute seien es 7500, erzählt Otto im Gespräch mit dem Tagesspiegel. Wenn ihm ein ähnliches Kunststück in Berlin gelingt, hätten sich die Vorbehalte erledigt.

Spezialist für Organizing

Er sei wegen Detlef Wetzel zur IG Metall gekommen, sagt Otto. Wetzel hatte ab 2007 die Frankfurter Zentrale der größten deutschen Gewerkschaft verschlankt, den Verwaltungsstellen mehr Ressourcen verschafft und mit Organizing-Projekten den Mitgliederschwund gestoppt. In Ostsachsen habe er in den vergangenen Jahren versucht, einen „Imagebruch“ zu erreichen, sagt Otto: Direkte Ansprache von Beschäftigten und Betrieben, gute Vernetzung in die Politik und dazu eine Öffentlichkeitsarbeit, die im Falle des Siemens-Werks dazu beitrug, dass Joe Kaeser die beschlossene Schließung des Standorts zurücknahm.

Jan Otto folgt auf Birgit Dietze, die zur Bezirksleiterin aufsteigt.

© Mike Wolff

Mit Siemens hat es Otto auch in Berlin zu tun, denn die Stadt ist mit rund 10 000 Beschäftigten der größte industrielle Standort im Welt-Konzern. „Ob Berlin Produktionsstandort bleibt oder nicht, ist noch nicht entschieden“, sagt Otto, und meint die Stadt insgesamt. Nach dem Verlust von rund 200 000 Arbeitsplätzen in den ersten zwei Jahrzehnten nach der Vereinigung hatte sich die Berliner Industrie in den vergangenen Jahren erholt und mit knapp 120 000 Beschäftigten stabilisiert. Die große Bedeutung von privaten und öffentlichen Dienstleistungen, Administration und Verwaltung bildet sich in den Gewerkschaftszahlen ab: Von den 214 000 Mitgliedern im Dachverband DGB gehört mehr als ein Drittel zu Verdi. Die Dienstleistungsgewerkschaft ist hier also mehr als doppelt so groß wie die IG Metall. „Ich würde gerne neue Wege gehen.“

"Wir werden uns verändern"

Es sind solche Sätze, die das gewerkschaftliche Establishment verunsichern. An die Betriebe der Plattformökonomie will Otto ran, und an die Softwareentwickler, Berater und Dienstleister, die in Berlin in industrienahen Bereichen unterwegs seien. „Da haben wir wenig an den Füßen in der IG Metall.“ Transformation und Digitalisierung sieht der Gewerkschafter gerade in Berlin mit der vielfältigen Wissenschaftslandschaft mehr als Chance denn als Bedrohung. Für die Industrie wie für die IG Metall: „Wir werden uns massiv verändern.“

Frauen in Führungspositionen sind selten

Wie bei vielen ostdeutschen Gewerkschaftern sind auch bei Otto klassenkämpferische Töne kaum zu hören. Er verfolgt vielmehr den sozialpartnerschaftlichen Ansatz und „will frühzeitig mit Unternehmen und Politik ins Gespräch kommen und agieren, nicht reagieren“. Da kann er demnächst mit seiner Vorgängerin Birgit Dietze zusammenspielen. Dietze ist eine der wenigen Frauen, die in der von westdeutschen Männern dominierten IG Metall Karriere macht.

35-Stunden-Woche nicht in Sicht

1973 in Friedrichshain geboren, in den Wendejahren bei der Elpro AG zur Industriekauffrau ausgebildet, dann Studium der Volkswirtschaftslehre und Jura, arbeitete Dietze als Anwältin und stieg 2012 bei der IG Metall als Tarifsekretärin und Juristin ein. Nach nicht einmal zwei Jahren als Berliner Gewerkschaftschefin wird sie im Oktober Bezirksleiterin, weil der glücklose Olivier Höbel im endlosen Streit um die Einführung der 35-Stunden-Woche im Osten zermürbt zurücktrat. Um dieses Thema – die Ostmetaller arbeiten drei Stunden länger als die Kollegen im Westen – dürfen sich künftig Dietze und Otto kümmern.

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