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Mit dem Hashtag "neugierigaufjarasch" versuchen die Grünen auf ihre Spitzenkandidatin aufmerksam zu machen. Ein hilfloser Versuch, heißt es intern.

© Paul Zinken/dpa

Wahl im September: Die Berliner Grünen sind weniger geschlossen, als es scheint

Eine Initiative innerhalb der Berliner Grünen offenbart Risse im Parteigefüge - und die Schwächen von Spitzenkandidatin Bettina Jarasch.

Wenn die Landesvorsitzenden einer Partei sich in einem Rechtfertigungsschreiben an die Mitglieder wenden, ist das alles andere als ganz normal. Nina Stahr und Werner Graf, das Führungsduo der Berliner Grünen, verschickten ihre Mail am vergangenen Montag um 12.45 Uhr.

Wortreich erklären sie, warum der Landesverband dieses Jahr vom fast heiligen Mitgliederprinzip bei den Aufstellungen für die Bundestags- und Abgeordnetenhauswahllisten abrückt und stattdessen im Delegiertenverfahren wählt. Die Landesmitgliederversammlungen seien ja ein „Fest der Demokratie“, heißt es da. Und: „Doch die derzeitigen Umstände und die Zwänge der Pandemie (...) haben uns schlussendlich davon überzeugt, diesen Schritt doch gehen zu müssen.“

Zuvor hatten einflussreiche Grüne aus dem Realo-Lager sich an Mitglieder und Öffentlichkeit gewandt. „Basis ist Boss“, heißt die Initiative. Ihr Vorwurf: Von sechs Vorstandsmitgliedern wollen drei in den Bundestag (Nina Stahr, Hanna Steinmüller, Andreas Audretsch) und einer ins Abgeordnetenhaus (Werner Graf).

Die Initiative äußert den Verdacht, dass der Vorstand deshalb eine schwer kalkulierbare, digitale Mitgliederversammlung verhindern will, obwohl sie mittlerweile rechtlich möglich ist. „Totengräber der Demokratie“ werden sie genannt. Zumindest ungewöhnlich für die Grünen ist, dass sich derart viele Vorstandsmitglieder erst jüngst in ihren Ämtern wiederwählen ließen und nun ein Mandat anstreben – bei den Grünen gilt eine strenge Trennung.

Der Streit um die Art der Nominierung von Kandidat:innen mag wie für politische Feinschmecker:innen wirken. Die Geschichte gibt aber Einblick in eine Partei, bei der nach außen bislang vieles rosig schien, die aber mit zunehmender Skepsis an ihrer Ausrichtung und dem Vermögen des Spitzenpersonals kämpft.

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Nicht wenige ältere Grüne kritisieren eine politische Verengung der jungen Generation auf die Themen Antirassismus und Diversität, die bei Sprachkritik anfängt, aber eine anpackende Sozialpolitik kaum mitdenkt, wie es heißt. Auch an der Spitzenkandidatin, Bettina Jarasch, wachsen Zweifel. Nur 19 Prozent der Berliner:innen kennen sie, die Grünen rauschten dazu drei Punkte im „Berlin Trend“ hinab.

Die Organisator:innen von „Basis ist Boss“ sind namhafte Mitglieder der Partei

Die Organisator:innen der Initiative „Basis ist Boss“ sind namhafte Mitglieder der Partei: Der EU-Parlamentarier Michael Cramer, Justizsenator Wolfgang Wieland, Landeschefin Irma Franke-Dressler. Sie alle tragen aber den Vorsatz „Ex“ vor Amts- oder Funktionärsbezeichnung.

Einzig Mittes Bezirksbürgermeister Stephan van Dassel ist aktiver Erstunterzeichner des Aufrufs. Er hatte sich im mit harten Bandagen ausgetragenen Duell um die Kandidatur für den Bürgermeisterposten in Deutschlands größtem Grünen-Bezirksverband knapp durchgesetzt. Die Wunden dieser Auseinandersetzung sind nicht verheilt, spätestens mit „Basis ist Boss“ reichen ihre Folgen auch über Mitte hinaus.

Im September 2020 sollte von Dassel fallen

September 2020, von Dassel soll fallen. Realos und Bunt-Grüne, eine recht neue, migrantisch geprägte Parteiströmung, haben seine Ablösung verabredet. Der grüne Bürgermeister streichelt zu selten die Parteiseele, hat den Radwegeausbau verschlafen und sich aus Sicht vieler in der Partei zu stark mit dem Sicherheitsbedürfnis der Menschen und vermüllten Plätzen beschäftigt.

Auch die Wahlkreise im Bezirk haben die Lager im Zuge dieses Deals unter sich aufgeteilt. Eines der ersten Opfer: die jüngste Berliner Grünen-Abgeordnete, June Tomiak vom linken Parteiflügel. Eine engagierte Kämpferin gegen Rechts, eines der Gesichter der Partei im Parlament, nun steht sie im Weg.

26. September, Poststadion in Moabit. Es schüttet vom Himmel, 251 des 1600 Mitglieder großen Kreisverbandes sind zur Wahl des Bezirksbürgermeisterkandidaten gekommen: die Basis. Denkbar knapp gewinnt Stephan von Dassel gegen seinen Herausforderer Tilo Siewer. Bloß wie? Später wird erzählt, der ehemalige Bundestagsabgeordnete Özcan Mutlu sei mit 40 Mitgliedern aufgetaucht, die vorher nie aktiv gewesen seien. Er habe von Dassel gerettet.

Kontakte zur Erdogan-Partei AKP - der härtest mögliche Vorwurf für Özcan Mutlu

Als Mutlu eine Woche später selbst gegen Hanna Steinmüller um das Bundestagsmandat im Bezirk kandidiert, wird aus der Partei an die Presse gestreut, Mutlu hätte angeblich Kontakte zur Erdogan-Partei AKP. Es ist der härtest mögliche Vorwurf gegen Mutlu, der in der Türkei geboren ist. Außerdem soll er unlauter Mitglieder geworben haben. Mutlu weist die Angriffe zurück, verliert aber deutlich gegen Steinmüller.

Mutlus Name fällt auch jetzt wieder. Auch wenn er auf keinem Schreiben der Initiative „Basis ist Boss“ vorkommt, sind sich viele sicher: dahinter steckt Mutlu. So schnell gibt er nicht auf. Er selbst will sich offiziell nicht zur Kampagne oder zum Vorgehen des Landesvorstands äußern.

Dass eine mögliche erneute Kandidatur Mutlus auf einem vorderen Listenplatz nur auf einer Mitgliederversammlung Erfolg haben könnte, ist aber ein offenes Geheimnis. Und dass viele Unterzeichner:innen „ihm etwas schuldig sind“, wie es eine Grüne formuliert.

Innerhalb der Partei scheint die Initiative allerdings eher isoliert. Fünf Tage nach Veröffentlichung hatten sich ihr 100 von 10.000 Mitgliedern angeschlossen. Auf Twitter, wo die Initiative auf ihre Kritik am Landesvorstand aufmerksam macht, erreichte sie bis Sonntag etwa 50 Follower.

„Basis ist Boss“ wird als Projekt einzelner Parteimitglieder mit klarer Interessenlage gesehen

Intern wird der Vorstoß heruntergespielt: „Realos im Ruhestand, die mit der aktuellen Einigkeit zwischen den Flügeln nicht klarkommen“, sagt eine linke Grüne und bezeichnet die Kampagne als „einfältig, dumm, blöd und plump.“ Wohin man auch hört in Parteispitze und Fraktion: „Basis ist Boss“ wird nicht als Projekt der Basis, wohl aber einzelner Parteimitglieder mit klarer Interessenlage bezeichnet. Parteichef Graf sagte dem Tagesspiegel: „Ich habe zuletzt viele Gespräche innerhalb der Partei geführt und keine große Aufregung wahrgenommen.“

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Und trotzdem bekommt die Fassade der Einheit bei den Grünen risse, werden Teile der Partei nervös – und das hat wohl auch mit der Schwäche von Spitzenkandidatin Jarasch zu tun. Sie trat als „Brückenbauerin“ zwischen den Flügeln an, errichtete bislang aber kaum inhaltliche Grundpfeiler. Während die SPD mit Familienministerin Franziska Giffey an der Spitze aufholt, schmieren die Grünen in ersten Umfragen ab, stehen ausgerechnet im Wahljahr nur einen Prozentpunkt vor der CDU.

Nach außen einig reagieren grüne Spitzenleute mit einer schnellen Social-Media-Kampagne auf die Umfrage: „neugierigaufJarasch“, lautet der Hashtag. Ein hilfloser Versuch, wie es selbst intern heißt, Einigkeit hinter der Kandidatin zu beschwören.

Wer sich in der Fraktion umhört, dem wird auch gesagt: „In den kommenden Wochen muss mehr kommen.“ Noch wird die Kritik nur im Hintergrund ausgesprochen, offiziell klingt es so: „Wir sind sehr zufrieden. Wir sind seit zwei Jahren mit etwas schwankenden Werten konstant auf Platz eins. Alles andere war zum jetzigen Zeitpunkt genau so zu erwarten“, sagt Parteichef Graf.

Giffey habe ja einen Amtsbonus, heißt es. Jarasch selbst war von 2011 bis 2016 Landesvorsitzende der Grünen, sitzt seit 2016 im Abgeordnetenhaus. Die Masse der Berliner:innen hatte davon wenig mitbekommen.

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