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Tagesspiegel-Gründer Erik Reger (1893 - 1954).

© Tsp-Archiv

70. Todestag des Tagesspiegel-Gründers Erik Reger: „Nicht immer konnten wir seinen eigenwilligen Wegen folgen“

Am 10. Mai 1954 starb Erik Reger plötzlich auf einer Dienstreise. Einiges aus seinen heute wieder aktuell wirkenden publizistischen und literarischen Werken wurde zuletzt neu veröffentlicht, vieles gibt es zu entdecken.

Von Markus Hesselmann

Die Beileidsbekundungen, die der Tagesspiegel am Tag nach dem überraschenden Tod seines Gründers als erste auf der Titelseite zitierte, hatten einiges gemeinsam: Sie kamen aus der Berliner Politik und wurden von prominenten Politikern formuliert, deren Namen bis heute geläufig und im Stadtbild präsent sind. Und sie benannten – für erste Beileidsadressen nicht unbedingt alltäglich – neben üblichen Bekundungen („Bestürzt und erschüttert ...“, „Mit großer Bestürzung und aufrichtiger Trauer ...“) den Dissens, der sie mit dem Verstorbenen verband.

„Wenn Erik Reger auch manchmal eigene Wege ging, so waren seine unbestechliche Ehrlichkeit und sein Einsatz für die Freiheit Berlins ein nicht wegzudenkender Anteil im Berliner Freiheitskampf“, schrieb Walther Schreiber (CDU). „Auch wenn wir nicht alle immer und insbesondere in letzter Zeit seinen eigenwilligen Wegen folgen konnten, so reißt doch sein Tod eine Lücke in das Berliner Geistesleben, die nur schwer zu schließen sein wird“, schrieb Otto Suhr (SPD).

Erik Regers jäher Tod auf einer Dienstreise nach Wien beendete sein Wirken als Tagesspiegel-Chef seit Gründung unserer Zeitung im September 1945. Knapp neun Jahre, in denen er mit antitotalitärer und transatlantischer Haltung produktiven Streit gesucht hatte – in Berlin und über Berlin hinaus bis hin zum Bonner Bundeskanzler Konrad Adenauer. Laut Klaus Bölling, einst Tagesspiegel-Redakteur und später bundesdeutscher Regierungssprecher, „mißfiel Adenauer, daß Reger immer wieder gegen den Status quo in der Deutschland-Frage anzurennen versuchte“. Zum Beispiel wollte Reger West-Berlin als zwölftes Bundesland etabliert sehen und schlug westlich kontrollierte Korridore durch die DDR vor.

Erik Reger 1953 im Gespräch mit Bundeskanzler Konrad Adenauer.

© Andreas Petersen, Archiv

„Im Nachkriegs-Berlin gab es bald keine Partei mehr, die sich nicht irgendwann über Regers Angriffe bitter beklagte“, schreibt der Historiker Andreas Petersen in seinem Nachwort zum 2014 unter dem Titel „Zeit des Überlebens“ veröffentlichten Tagebuch, in dem Reger die letzten Wochen des Zweiten Weltkrieges und die ersten der Nachkriegszeit im Berliner Umland dokumentiert. Nach Mahlow war der Schriftsteller und Publizist im August 1943 mit seiner Frau Christine gezogen, noch rechtzeitig, bevor beider Wohnung in Berlin-Halensee im Luftkrieg zerstört wurde.

Klare Haltung als Antifaschist und Antikommunist

Was in den Nachrufen noch auffällt: Gerade einmal neun Jahre nach dem Ende der Nazi-Zeit wird Reger vor allem als Antikommunist gewürdigt. Dies schmälert nicht nur sein Wirken zu Weimarer Zeiten, sondern auch in den ersten Tagesspiegel-Jahren. „Er war schneidend in seinem Antikommunismus und mindestens genauso scharf in seinem Antifaschismus“, schreibt Petersen. „Von der ersten Ausgabe an schrieb Erik Reger im Tagesspiegel schneidend gegen jede Verklärung der NS-Zeit an.“ Der sowjetischen Siegermacht stand Reger zunächst, wie den Alliierten insgesamt, durchaus erwartungsvoll gegenüber. Die West-Berliner Frontstadt-Haltung entwickelte sich beim Tagesspiegel und dessen Gründer erst nach und nach.

Ein neues Buch markiert den Übergang: „1948. Ein Augenblick Berlin. Auf dem Weg zur geteilten Stadt“, herausgegeben vom früheren Tagesspiegel-Verleger Lothar C. Poll, erschienen im Lukas-Verlag. Nachdem zuletzt vor allem Regers Weimarer Wirken im Vordergrund von Wiederveröffentlichungen stand, werden damit Arbeiten beim Tagesspiegel in einem (hoffentlich) ersten Schritt wieder verfügbar. Die Artikelsammlung „Zwei Jahre nach Hitler“ steht im Mittelpunkt dieses Bandes, der neben weiteren politischen Essays Regers auch Wiederentdeckenswertes unter anderen von Karena Niehoff, Kurt Hiller oder Günther Weisenborn verfügbar macht. Auch Regers publizistischer Widersacher Rudolf Herrnstadt („Berliner Zeitung“, „Neues Deutschland“) - der Historiker Christoph Marx hatte beiden 2016 die Studie „Politische Presse im Nachkriegsberlin 1945-1953: Erik Reger und Rudolf Herrnstadt“ gewidmet - ist vertreten.

Die junge Generation ist hier wieder Regers Thema, wie schon in „Ruhrprovinz“, einem 1928 für die „Weltbühne“ verfassten Artikel, in dem er im Nachwuchs die einzige Hoffnung seiner in kleinbürgerlicher Lethargie versunkenen, von Pathos geblendeten und von Phrasen beherrschten Regions- und Zeitgenossen im Ruhrgebiet erkennt. Einer Jugend „ohne Kulturpathos, ohne die Ethik der ,ewigen Werte’“, einer Jugend, die „Wirklichkeitssinn hat und die Mechanik der Maschinenzeit durch Selbstverständlichkeit überwindet“. Sätze, die dazu einladen, auch heute Hoffnung auf junge Menschen zu setzen, die mit der Digitalisierung ohne die Mythen ihrer Eltern kritisch-produktiv umgehen.

1947 nun sind es die noch Jüngeren, die Kinder, die Reger nach den Nazijahren Hoffnung geben: „Blickt die Fünfjährigen an: Sie werden in zwanzig Jahren darüber entscheiden, ob die Vorbereitungszeit der Demokratie in Deutschland als beendet angesehen werden darf.“ Und Reger hat ein Rezept, das dann durch Städtepartnerschaften, Schüleraustausch, Au-pair, Interrail oder Studienprogramme eingelöst wurde: „Organisiert, sobald diese Kinder größer werden, Aufenthalte in fremden Ländern für sie, damit sie dort sehen und denken und unter freien Menschen sich frei bewegen lernen.“ Und ebenso wichtig: „Schafft ihnen Umgang mit fremden Kindern in Deutschland.“ Dies dann aber nicht nur im Reisemodus, sondern „Verkehr in fremden Familien, die in Deutschland ansässig sind“. Und bei alldem gilt für ihn der Grundsatz: „Bewahrt sie vor dem engen Horizont.“

Kinder in den Trümmern Berlins.

© IMAGO/GRANGER Historical Picture Archive

Den engen Horizont hatte Reger in jenem „Weltbühne“-Stück beklagt. Engstirnig arbeitet sich die Provinz an Berlin ab, in dem Fall die „Ruhrprovinz“. Einen „Guerillakrieg gegen die Geschichte, die Berlin zur Reichshauptstadt gemacht hat“ sieht Reger im Gange. Denn, schreibt der damals selbst im Ruhrgebiet ansässige Publizist und Schriftsteller, die Vorurteile und Verschwörungstheorien seiner rheinisch-westfälischen Landsleute karikierend: „Berlin ist der böse Geist des Ruhrreviers. Es nimmt ihm alles fort und duldet nicht, daß ihm etwas gegeben werde.“ Der Kurfüstendamm, „aus dem bekanntlich Berlin besteht“, habe nun einmal eine Antipathie gegen das „Land der Arbeit“.

Die jüngste Neuveröffentlichung mit Texten von Erik Reger (sowie anderen Autoren der Nachkriegszeit in Berlin).

© Lukas-Verlag

Klingt wie heutige Gegenüberstellungen eigener ehrlicher Arbeit und dadurch finanzierter Berliner Dekadenz, bekannt von sauerländischen und bayerischen Provinzbühnen. Und auch die in unserer Zeit ebenso verbreitete, nicht zuletzt aus Neid gespeiste Hassliebe zu Berlin spießt Reger schon auf. Denn „die kerndeutschen Eichen von der Ruhr“ können „es nicht vier Wochen aushalten“ ohne Berlin „gekostet zu haben“, „zu Studienzwecken natürlich“ - um dann zu versuchen, es zu imitieren. Neben Thomas Bernhards „Städtebeschimpfungen“ besteht Regers „Ruhrprovinz“ mühelos.

Ebenfalls im Ruhrgebiet angesiedelt ist das literarische Hauptwerk des Schriftstellers und Publizisten, der 1893 mit dem Namen Hermann Dannenberger in Bendorf am Rhein als Sohn eines Grubenaufsehers geboren worden war und sich später wegen seiner Arbeit im Pressebüro von Krupp für seine publizistische und literarische Tätigkeit das Pseudonym Erik Reger zulegte: 1931 erschien der große Industrie- und Zeitroman „Union der festen Hand“ und wurde im selben Jahr mit dem Kleist-Preis ausgezeichnet. 2022 erschien im Schöffling-Verlag wieder nach längerer Zeit eine Neuausgabe, hier ausführlich für den Tagesspiegel besprochen.

Das “Lesebuch Erik Reger“ wurde von Erhard Schütz herausgegeben und ist im Aisthesis-Verlag erschienen.

© Aisthesis Verlag

Im vergangenen Jahr sind dann zwei Bücher herausgekommen mit Artikeln des Tagesspiegel-Gründers, verfasst größtenteils vor seiner Berliner Zeit: Das „Lesebuch Erik Reger“, zusammengestellt von Erhard Schütz und „In Sachen Stadtschaft. Literarische Reportagen und Aufzeichungen zum Ruhrgebiet 1923 bis 1973“, herausgegeben von Dirk Hallenberger.

„In Sachen Stadtschaft“ wurde von Dirk Hallenberger herausgegeben und ist im Verlag Henselowsky Boschmann erschienen.

© Henselowsky Boschmann

Im erstgenannten Band geht es, wie der Titel schon sagt, ausschließlich um Reger, im zweiten steht Reger mit seiner polemisch-essayistischen Reportage „Ruhrprovinz“ (auch Teil des Lesebuchs) neben Autor:innen wie Ernest Hemingway, Egon Erwin Kisch, Larissa Reisner, Joseph Roth und Lisa Tetzner. Umfassend versammelt wurden Regers „Kleine Schriften“ in zwei gleichnamigen Bänden 1993, herausgegeben ebenfalls von Erhard Schütz und nur noch antiquarisch zu haben.

Wiederveröffentlichung verdiente daraus vieles, nicht zuletzt die „Naturgeschichte des Nationalsozialismus“, erschienen 1931 als Artikelserie in der „Vossischen Zeitung“, mit hellsichtigen, in unseren Trumpistischen Zeiten aktuell wirkenden Passagen.

„Trifft ihn also der Vorwurf der Korruption und Unehrlichkeit, der gewissenlosen Demagogie?“, fragt Reger zwei Jahre vor der Machtübergabe an Hitler mit Blick auf den erstarkenden Nationalsozialismus. „Ja, er trifft ihn, aber er fügt ihm keine Verluste zu, weil eben diese negativen Elemente sein Fundament ausmachen, und nicht bloß als ornamentale Stilverwirrungen aufgesetzt sind. Jemand, der zwar alle Tage lügt, aber die Lüge in den Rang einer rituellen Wahrheit erhoben hat, kann nicht mehr dadurch unschädlich gemacht werden, daß man ihm von Fall zu Fall eine Lüge nachweist.“

Folgt auf die Wiederveröffentlichung der „Union der festen Hand“ bald „Das Wachsame Hähnchen“? Regers zweiter Roman, erschienen 1932, wäre es ebenso wert. Nach der Großindustrie geht es hier um Kommunalpolitik und -wirtschaft, in einem Schlüsselroman, in dem sich Konrad Adenauer wiedererkannte und darüber ärgerte.

„Der Regierungschef kannte Reger aus der Vor-Hitler-Zeit“, schrieb Klaus Bölling 1991 im Tagesspiegel. Adenauer habe Reger geachtet „als politischen Kopf, hatte aber weder vergessen noch gar vergeben, daß der Tagesspiegel-Herausgeber in einem anderen Schlüsselroman (Das wachsame Hähnchen) dem Kölner Oberbürgermeister und seinem ’Klüngel’ heftig zugesetzt hatte“.

Im Reger-Lesebuch findet sich ein Auszug über „Wahnstadt“ (Essen), das mit „Eitelfeld“ (Düsseldorf) und „Kohldorf“ (Köln) im Standort-Wettstreit liegt. Die Stadt wächst unkontrolliert, „unorganisch“, dabei muss doch der Städtebau einer „Generalidee“ folgen oder deren Ausprägung, einem „Generalbauplan“. Dass da Vieles militärisch und totalitär klingt, ist kein Zufall.

Sagt der Architekt zum Chef des City-Vereins: „Sie verstehen, was mir vorschwebt? Eine einheitliche Architektur vom Grashalm bis zum Dachziegel. In der Altstadt verschwinden alle Wohnungen. Es gibt dort keine Kinder mehr auf der Straße. Frauen kommen nur gastweise hin, zum Einkauf, oder als Stenotypistinnen, Verkäuferinnen, Packerinnen, rasch ins Geschäft, rasch zum Imbiss, rasch nach Hause. Hier herrschen der Kaufmann und der Gaststättenbesitzer. Es ist die Männerstadt.“

Dass da kein Stein auf dem anderen bleibt, ist abzusehen - aber anders als von den Protagonisten gedacht. Mit späterem Wissen kommt ein sich verbietender Nazi-Vergleich in den Sinn (Speer! Berlin! Germania!). Städtebaulicher und verkehrspolitischer Größenwahn sind jedenfalls kein Alleinstellungsmerkmal der Nazis.

„Nicht verwunderlich, dass das nicht gedruckt wurde“

Auch ein Text aus der Nazizeit ist in der Sammlung enthalten, auch dessen Handlung spielt in Essen. Reger schreibt zum 15. Jahrestag eines tödlichen Vorfalls von 1923 während der Ruhrbesetzung durch die französische Armee, als deren Soldaten protestierende Krupp-Arbeiter erschossen.

„Was hätte 1938 also näher gelegen, als den Erzfeind Frankreich anzuklagen“, schreibt Herausgeber Schütz in seinem Nachwort. Stattdessen wendet sich Reger grundsätzlich gegen „kriegerische Auseinandersetzungen zwischen zwei Nachbarvölkern“ und kritisiert nicht die Franzosen im Besonderen, sondern das Militär allgemein. „Nicht verwunderlich, dass das nicht gedruckt wurde“, so Schütz weiter. Der Artikel wurde in Regers Nachlass entdeckt.

Versuchte Emigration, innere Emigration

Als öffentlich bekannter Nazigegner war Erik Reger nach der Machtübergabe an Hitler in die Schweiz emigriert, durfte dort aber nicht arbeiten und „muss 1936 wegen ‘Überfremdung’ das Land wieder verlassen“ (Erhard Schütz). Zurück in Deutschland arbeitet Reger in der Werbeabteilung von Boehringer in Mannheim und schließlich in Berlin beim „arisierten“ Ullstein-Verlag, nun „Deutscher Verlag“, kontrolliert von den Nazis.

Reger geht die Kompromisse und Kompromate der „inneren Emigration“ ein, wird in die „Reichsschrifttumskammer“ aufgenommen, aber wegen seiner publizistischen Vergangenheit auch immer wieder attackiert. Was ihn nicht daran hindert, in einem fort zu publizieren, zum Beispiel historische Romane bei Rowohlt oder, laut Schütz, stetig Feuilletons „für die großen Tageszeitungen, Illustrierten und Magazine“, dem NS-Forscher Ernst Klee zufolge etwa auch im Nazi-Blatt „Krakauer Zeitung“.

Den Abschluss des Lesebuchs bildet ein Tagesspiegel-Artikel von 1953. Hier geht es um den Aufstand vom 17. Juni in der DDR. Regers antitotalitäre Haltung auch gegenüber dem kommunistischen Regime wird deutlich. Und seine Identifikation mit Berlin, genauer: Westberlin, „wir“.

Aber nicht nur: „Zum erstenmal sind es die Ostberliner, die den Namen Berlins als einer der sicheren Stützen des Freiheitskampfes in alle Welt tragen“, schreibt Reger begeistert und sieht eine Wechselwirkung: „Als in der Blockadezeit Westberlin ein Beispiel gab, haben wir immer auch der Bevölkerung Ostberlins gedacht, von der wir wußten, daß sie auf unserer Seite stand...“ Dieses Wissen um moralische Unterstützung durch viele Menschen im Osten habe den Widerstandswillen in der Zeit der Luftbrücke im Westen gestärkt.

Ein Jahr später starb Reger, gerade 60-jährig, während einer Tagung in Wien. Sofort aufkommende Gerüchte, dass sowjetische Geheimdienstler sich eines prominenten West-Berliner Anti-Kommunisten entledigen wollten, haben sich bis heute nicht erhärten lassen.

„Höchstwahrscheinlich ist er doch eines natürlichen Todes gestorben“, schreibt Erhard Schütz. „Der Obduktionsbefund nennt Herzversagen und bescheinigt einen desolaten Gesundheitszustand.“

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