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Die Apothekerverbände haben einen Zehn-Punkte-Forderungskatalog aufgestellt und verlangen unter anderem eine Anhebung der Honorare für verschreibungspflichtige Arzneimittel von 8,35 Euro auf 12 Euro pro Packung.

© dpa/Annette Riedl

„Wir befinden uns am Kipppunkt“ : Warum Berliner Apotheker demonstrieren

Lieferengpässe, stagnierende Honorare, Personal- und Nachwuchsmangel belasten die Apotheken. Unterwegs mit dem Berliner Pharmazeuten Max Wilke.

Von Colin Ivory Meyer

In der Ahrensfelder Kaufpark-Apotheke ist es dunkel. Die Tür wurde mit rot-weißem Absperrband zugeklebt, Plakate informieren über einen Streik. Am Lieferanteneingang hinter dem Einkaufszentrum befindet sich eine Klappe, darüber steht „Notdienst“.

Max Wilke ist als leitender Apotheker hier an der Stadtgrenze und an anderen Standorten in Berlin tätig. Er und sein siebenköpfiges Team aus Apothekern, kaufmännischen und pharmazeutischen Assistenten kümmern sich am Streiktag abwechselnd um die Versorgung.

Ein „Helfertyp“: Max Wilke vor der Kaufpark-Apotheke in Ahrensfelde.

© Tagesspiegel/Colin Ivory Meyer

„In Apotheken arbeiten Helfertypen – Charaktere, die nicht aufbegehren und auf die Straße gehen“, sagt Wilke. Dass gestreikt wird, belege die außergewöhnliche Lage. Für Conni Obendorfer, die in einer Brandenburger Apotheke arbeitet, ist es nach 43 Jahren im Beruf der erste Streik. Im Jahr 2006 streikten zuletzt Apotheken regional.

Es herrscht in Politik und bei den Krankenkassen ein massives Misstrauen gegenüber den Apotheken.

Max Wilke, Apotheker

Seit Monaten klagen Obendorfer sowie ihre Kolleginnen und Kollegen über die Mehrarbeit aufgrund von Medikamentenengpässen, die stagnierende Bezahlung, Personal- und Nachwuchsprobleme.

Zentrale Forderung der Apotheker sind die Honorare: Wilke betont, dass es dabei nicht um Topgehälter gehe, sondern um die faire Bezahlung von Angestellten. Pharmazeutisch-technische Assistenten beispielsweise verdienen nach aktuellem Tarif vom ersten bis zum 14. Berufsjahr zwischen 2419 und 2954 Euro brutto im Monat. Aninna Liebetrau, die diesen Job in der Ahrensfelder Apotheke ausübt, sieht das auch als Grund für den Nachwuchsmangel. Seit 2004 sind die Honorare gesetzlich festgesetzt und haben sich seitdem kaum geändert, erzählt sie.

Für Franka Bree, die in der Kaufpark-Apotheke eine Ausbildung zur pharmazeutisch-kaufmännischen Assistentin absolviert, sind die tariflichen Gehaltsaussichten noch schlechter: Berufseinsteiger starten mit 2156 Euro, nach zehn Jahren steigt das Gehalt auf 2423 Euro. Approbierte Apotheker wiederum verdienen nach Tarif knapp das Doppelte. Vielerorts bekommen alle jedoch mehr gezahlt.

„Für zusätzliche Honorarsteigerungen an die Apotheken sehen wir keinen sachlichen Grund“, sagt Jens Ofiera vom GKV-Spitzenverband, der zentralen Interessenvertretung der gesetzlichen Kassen, dem Tagesspiegel. Die Vergütung der Apotheken steige ständig, durch höhere Preise für die Arzneimittel sowie Zuschläge bei Notdiensten.

Die Kunden, deren Gesichter an der Klappe in Ahrensfelde erscheinen, haben Verständnis für das Anliegen. Genervt sind sie trotzdem. Eine Frau, die hörbar erkältet ist, sagt: „Ich habe im wahrsten Sinne des Wortes die Schnauze voll.“ Wilke sieht das als notwendiges Übel.

Bei fehlerhaften Rezepten können Krankenkassen die Zahlung verweigern

Eine weitere Forderung der Apotheken, um ihre Wirtschaftlichkeit zu garantieren, ist die Anhebung des Festzuschlags bei der Abgabe von verschreibungspflichtigen Medikamenten auf zwölf Euro – momentan liegt er bei 8,35 Euro. Die Politik habe die Apotheken in den letzten Jahren vergessen, meint Wilke und hält die Anhebung für überfällig: „Die Rechnung, Apotheken laufen immer gut, geht nicht mehr auf.“

Im März fiel die Zahl der Apotheken in Deutschland auf unter 18.000 – so wenige wie seit 40 Jahren nicht mehr.

© Tagesspiegel/Colin Ivory Meyer

Auf dem Weg zur Demonstration, die an den Bundesministerien für Gesundheit und Finanzen vorbeizieht und am Wirtschaftsministerium endet, spricht Wilke von einem speziellen Problem: „Es herrscht in der Politik und bei den Krankenkassen ein massives Misstrauen gegenüber den Apotheken.“ Das Vertrauen, das den Apotheken während der Pandemie zugebilligt wurde, sei verschwunden. Deswegen seien im Zuge der Lieferengpässe bürokratische Hürden aufgebaut worden, die ihre Arbeit behindern. Woher das Misstrauen kommt, weiß er nicht.

Gleichzeitig sieht er die Krankenkassen in Opposition zu den Apothekern. „Wir sehen uns als Partner im Gesundheitssystem“, doch die Krankenkassen würden die Apotheken mit sogenannten Null-Retaxationen bedrohen. Gemeint ist, dass bei fehlerhaften Rezepten die Krankenkassen in manchen Fällen die Zahlung verweigern können. „Wir verbringen jeden Tag zwei Personalstunden damit, Rezepte auf Richtigkeit zu prüfen – aus Angst vor Null-Retaxationen“, sagt Wilke. Das seien Personalkosten, die am Ende wieder die Krankenkassen belasteten. Das sei irrational.

GKV-Sprecher Ofiera sieht keine Notwendigkeit für eine Neuregelung. Die Zahlungsverweigerung der Krankenkassen kämen nur bei Fehlbelieferungen oder schweren gesetzlichen oder vertraglichen Verstößen vor. Die strenge Prüfpflicht diene „dem Schutz der Patienten sowie der wirtschaftlichen Versorgung“, teilt er auf Anfrage mit.

Sorge bereitet Wilke die sinkende Zahl der Apotheken. In Berlin seien in den letzten zehn Jahren 15 Prozent der Apotheken geschlossen worden: „Wir sind noch nicht in einem versorgungsgefährdenden Bereich, aber an einem Kipppunkt“, sagt er.

Ab S-Bahnhof Friedrichstraße häufen sich am Mittwoch die weißen Kittel und roten Schilder. Angaben der Polizei zufolge nahmen rund 3800 Menschen an der Demonstration teil. Einige Kostüme der Demonstranten sind geprägt von einem morbiden Humor – eine Frau in schwarzem Gewand und Sichel sticht in der weißen Menge besonders hervor. Auf einem Schild steht: „Todesursache: Lieferengpass“.

Bei der Demo angekommen, klettert Wilke auf einen roten Lastwagen und spricht von dort im Laufe des Protests zu den versammelten Pharmazeuten. Wenn ihren Forderungen nicht nachgegeben wird, will er weiter für die Zukunft der Apotheken streiten – und auch wieder auf die Straße gehen.

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