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Im Jahr 1979 häuften sich Vorfälle, die die Zeiterfahrung der Menschen änderten. Die Zeit, in der man euphorisch die Zukunft plante, war vorbei, so Bösch. Foto: Demo gegen das Atommüll-Endlager Gorleben 1979 in Hannover.

© Wolfgang Weihs/dpa

"Die Zeitenwende": Im Jahr 1979 starb der Zukunftsoptimismus

Der Potsdamer Zeithistoriker Frank Bösch über das Jahr 1979, in dem sich weltweit Ereignisse verdichteten, die bis heute nachwirken. Das Jahr gilt als Schlüsseldatum einer komplexer werdenden Welt.

Herr Bösch, Ihr neues Buch trägt den Titel „Zeitenwende 1979“ – müsste das nicht 1989 oder vielmehr 1945 heißen?
Gerade in Deutschland sind wir tatsächlich gewohnt, die Geschichte vom Ende des Kriegs und dem Mauerfall her zu denken. Sehr viele Herausforderungen kamen aber bereits 1979 auf, als sich Ereignisse mit globaler Ausstrahlung häuften. Mir geht es um einen ergänzenden Perspektivwechsel. Denn das Aufkommen des Islamismus, Neoliberalismus, die Energiewende oder außereuropäische Flüchtlingsbewegungen lassen sich eben nicht nur vom Mauerfall her verstehen.

Inwiefern war 1979 ein Schlüsseldatum, einer außergewöhnliche Zäsur?
Es gab seinerzeit ein verdichtetes Auftreten von Ereignissen, die auf die Gegenwart verweisen. Das gilt für das Aufkommen des fundamentalistischen Islams mit der iranischen Revolution, in Afghanistan im Kampf nach dem sowjetischen Einmarsch oder in Saudi-Arabien nach der Geiselnahme in Mekka. Generell kam es zu einer unerwarteten Renaissance der Religionen, etwa mit dem Aufkommen der Befreiungstheologie in Lateinamerika, mit den Evangelikalen in den USA aber auch mit betont religiösen Werten, wie sie Margaret Thatcher in Großbritannien verkündete.

Und im Osten?
Auch im Sozialismus hatte die neue Wirkungsweise des frisch gewählten aus Polen stammenden Papstes starken Einfluss. Neben dieser Verbindung von Politik und Religion ist das Aufkommen globaler Märkte ein übergreifendes Thema. Die marktliberalen Reformen der frisch gewählten Margaret Thatcher stehen dafür ebenso wie der grundlegende Wandel in China. Dass sich ein kommunistisches Land soweit für den Kapitalismus öffnet und mit dem Westen kooperiert, unterstreicht, wie sich die Globalisierung nun dynamisiert.

Ich ergänze noch einige Ereignisse: die zweite Ölkrise, der AKW-Unfall von Harrisburg, das Aufkommen des ökologischen Denkens oder die erstmalige Aufnahme von außereuropäischen Flüchtlingen, den Boat People aus Vietnam oder auch das Usenet als Vorläufer des Internets – wie konnte es zu einer solchen Häufung kommen?
Die 1970er-Jahre waren ein Jahrzehnt des Krisendiskurses. Diese pessimistische Sicht auf die Welt ermöglicht und fördert, dass neue Heilsfiguren aufkommen, die grundsätzlich andere Wege beschreiten. Ein zweiter wichtiger Punkt ist der Medienwandel. Besonders das globale Live-Fernsehen ermöglicht, dass Ereignisse gleichzeitig weltweit wahrgenommen werden. Hinzu kommt die Dynamik der Globalisierung in dieser Zeit, also der zunehmende wechselseitige Austausch, auch per Flugzeug. Dieser intensivierte Austausch hatte in den 1970er-Jahren begonnen und führte dazu, dass auf allen Ebenen von Waren bis zu Solidaritätsgruppen Interaktionen stattfanden, die nun eine größere Bedeutung erlangen konnten als zuvor.

Frank Bösch (49) ist Direktor des Zentrums für Zeithistorische Forschung und Professor für Europäische Geschichte des 20. Jahrhunderts an der Universität Potsdam.
Frank Bösch (49) ist Direktor des Zentrums für Zeithistorische Forschung und Professor für Europäische Geschichte des 20. Jahrhunderts an der Universität Potsdam.

© promo

Wurde die Welt seinerzeit aufgeklärter – oder wieder konservativer?
Generell wird die Welt vielfältiger und multipolarer. 1979 haben wir einerseits einen letzten Höhepunkt des Kalten Krieges mit dem Nato-Doppelbeschluss und dem sowjetischen Afghanistan-Einmarsch. Andererseits zeigt sich aber, dass die bipolare Ordnung des Kalten Krieges, die in der Welt sich starr in zwei Lagern gegenüberstand, nicht mehr funktioniert. Es treten neue Schwerpunkte und Krisenherde auf, dafür steht China und der Nahe Osten. Und es treten auch andere Deutungsmuster auf. Die Friedensbewegung in der DDR, aber auch in der Bundesrepublik richten sich nicht mehr klar gegen den Westen oder Osten, sondern fordern Abrüstung von beiden Seiten. Andererseits treten aber auch viele konservative Reformer auf, etwa Chomeini, der Papst oder Thatcher, die sich gegen den liberalen Wandel der 1970er-Jahre stemmen. Sie stehen für eine neue antiliberale Bewegung, gegen die Gleichberechtigung von Frauen, Homosexuellen oder gegen die Abtreibung beispielsweise. Mit der verstärkten Globalisierung wächst zudem auch wieder der Nationalismus, auch dies ein neues, bis heute relevantes Phänomen, bei dem von dem Erreichen einer einstigen Größe der Nation geträumt wird, in einer Welt, die immer stärker interagiert. Thatcher war es, die 1950 bereits „Make Britain great again“ forderte. Und auf die große Hilfe für die Boat People aus Vietnam folgen 1980 bereits Brandanschläge auf deren Flüchtlingsheime in Deutschland.

Ist dies auch der Anfang von Huntingtons „Kampf der Kulturen“, den Anschlägen von Nine-Eleven bis hin zum heutigen Populismus?
Die Formierung des radikalen Islams erhält 1979 einen wichtigen Schub, aber eben auch die von antiislamischen Feindbildern. Auch in der deutschen Presse häuft sich die Angst: „Khomeinis Arm reicht bis nach Hamburg“ titelte damals etwa die „Zeit“. Türkische Gastarbeiter galten vorher zwar als ungebildet und arm, nun zudem stärker als Muslime. Es gab hier eine Wechselbeziehung, die später dann als „Kampf der Kulturen“ stilisiert wurde. Allerdings sind die Beziehungen nicht so eindeutig. So fanden die Mudschahedin in Afghanistan auch im Westen viel Zuspruch, weil sie gegen den Kommunismus kämpften. Sie wurden hofiert und eingeladen, und der CDU-Bundestagsabgeordnete Jürgen Todenhöfer begleitete sie sogar in Afghanistan. Auch in anderen Bereichen entstanden neue Verbindungen: So trafen sich hohe Kommunisten aus China bevorzugt mit deutschen Konservativen wie Franz Josef Strauß oder Helmut Kohl. Die alten links-rechts Paradigmen verloren an Trennschärfe, weil die Welt viel komplexer wurde.

Heute wird immer wieder formuliert, dass die Welt aus den Fugen sei. Hat man das 1979 nicht ähnlich empfunden?
Die Welt war oft aus den Fugen, natürlich während der Weltkriege noch in einem weitaus höheren Maße als danach. Das Markante ist, dass wir 1979 sehr plötzliche Umbrüche erlebten, mit denen kaum jemand gerechnet hatte. Etwa überraschende Revolutionen und Regimewechsel, die entweder verängstigten oder große Begeisterung auslösten. Und es gab Momente der großen Verunsicherung, etwa als es zu einer Kernschmelze in dem Atomkraftwerk Harrisburg in einem Ballungsraum in den USA kam. 140 000 Menschen flohen aus Angst vor einem drohenden Super-Gau. Solche Live-Bilder verunsicherten weltweit, wie die Zukunft aussehen könnte – in diesem Fall die künftige Energieversorgung. Oder als der Papst von zehn Millionen Menschen in Polen empfangen wurde, wusste die kommunistische Partei erst einmal gar nicht, wie sie damit umgehen sollte. Im Nachhinein wird deutlich, dass die Massenbewegung in Polen, die Formierung der Solidarnosc eine große Herausforderung für den Sozialismus in Polen und dann auch weit darüber hinaus war.

Und dazu noch der sowjetische Einmarsch in Afghanistan, ist das der Anfang vom Ende der sozialistischen Welt?
Der Machtanspruch der Sowjetunion wird ganz klar herausgefordert. Nie hatte die Sowjetunion eine so große Machtausdehnung wie nach ihrem Einmarsch in Afghanistan. Gleichzeitig war dies aber eine Überdehnung des Herrschaftsbereiches. Die Sowjets scheiterten in Afghanistan ähnlich wie die USA zuvor in Vietnam. Das Land war moralisch diskreditiert, auch von Bündnispartnern wie der DDR wurde der Einmarsch sehr kritisch gesehen. Das half auch der starken Friedensbewegung, die sich gegen Ost und West richtete – auch in der DDR. Dort fanden auch die Kirchen seit 1979 eine neue Rolle, indem sie zum Dach für Protestgruppen wurden.

Sie selbst waren 1979 zehn Jahre alt. Woran erinnern Sie sich vor allem?
An den unglaublich kalten Winter. Anfang 1979 gab es eine der größten Schneekatastrophen in der Geschichte Norddeutschlands. Meterhohe Schneeberge in Mecklenburg und Schleswig-Holstein, die NVA und die Bundeswehr musste ausrücken. Und während der Norden weltweit mit Eis kämpft, steigen überall die Ölpreise rasant an. Zusammen mit der Wirtschaftskrise verstärkte diese zufällige Wetterlage sicherlich damals die Zukunftsängste.

Empfanden denn auch die Zeitgenossen das Jahr 1979 als ungewöhnlich?
Viele der Jahresrückblicke sprachen tatsächlich von einem völlig verrückten Jahr. Man hatte das Gefühl, dass sich die Welt so schnell drehe, dass man den Ereignissen gar nicht mehr nachkam. Auch die Zeitgenossen erkannten zugleich, dass die jeweiligen Ereignisse eine große Bedeutung hatten. Das galt auch für die unglaubliche Wucht, mit der die US-Fernsehserie „Holocaust“ über die Bundesrepublik kam. Das war eine grundsätzliche Erschütterung, es gab kaum ein Medium, das nicht permanent darüber berichtete, die Rede war von einer Überwältigung durch diesen „Geschichtssturm“. Hier zeigte sich die Wucht der neuen globalen Medialität: Die Serie lief sehr schnell in 52 Ländern und erreichte eine Viertel Milliarde Menschen. Dies markiert zugleich den bis heute einflussreichen Handel mit US-Serien. Weite Teile der Welt tauschten sich plötzlich über etwas Ähnliches aus. Hinzu kam, dass die Serie generell für ein neues Geschichtsdenken stand.

Inwiefern?
In Ost und West gab es seit Ende der 1970er ein neues Interesse an Geschichte, sei es für Preußen, Altstädte oder die Alltagsgeschichte. Dies steht für eine veränderte Zeiterfahrung. Die Zeit, in der man euphorisch die Zukunft plante, war vorbei. Stattdessen entstand eine Überwältigung durch die Gegenwart und eine Hinwendung zur Vergangenheit.

Die Intellektuellen blickten recht ratlos auf die Zeit.
Das Aufkommen des Begriffs der Postmoderne markiert, dass es bereits damals ein Bewusstsein dafür gab, dass eine neue Zeit beginnt. Die alte Moderne mit ihrem ganzen Zukunftsoptimismus ging zu Ende. Die Postmoderne wird oft umschrieben als Wahrnehmung von Gleichzeitigkeit, einer neuen Vielfalt ohne lineare Entwicklungen. Statt der großen Erzählung der Moderne wird Nebeneinanderstehen der Erzählungen betont. Diese Erfahrung von Gleichzeitigkeit sehr unterschiedlicher Welten greife ich in meinem Buch auf.

Betraf das denn auch die DDR?
Die DDR war natürlich stärker abgeschottet und globale Impulse kamen hier weniger an. Aber die Mauer war eben doch nicht undurchlässig und viele globale Ereignisse betrafen auch Ostdeutschland. So führte die Ölkrise dazu, dass auch im Sozialismus die Energiepreise stark anstiegen. Das verstärkte die Wirtschafts- und Devisenkrise der DDR und förderte ihre Abhängigkeit vom Westen. Oder nehmen Sie Nicaragua, das für Solidaritätsbewegungen in Ost und Wert gleichsam zur Utopie einer besseren Welt wurde. Und die Flüchtlingshilfe für Vietnamesen im Westen konterte die DDR mit der Aufnahme vietnamesischer Vertragsarbeiter.

Welche Spuren hat das Ausnahmejahr 1979 hinterlassen?
Neue Weltanschauungen wie der Neoliberalismus, Islamismus oder das ökologische Denken blieben ja wirkungsmächtig, wenngleich ihre Heilsversprechen neue Probleme bescherten. Durch die kritische Weltöffentlichkeit wurde die Welt seit den 1970er-Jahren insgesamt besser, aber eben nicht so gut wie von den Vordenkern der Zeit damals erhofft.

„Zeitenwende 1979. Als die Welt von heute begann“, Frank Bösch, C.H. Beck, 28 Euro. Vorstellung des Buches am heutigen 30. Januar um 19.30 Uhr, in der Urania Berlin und am 19. Februar um 18 Uhr am ZZF Potsdam, Am Neuen Markt 9d, der Eintritt ist frei

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