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Angriffe auf Flüchtlinge: „Heute gibt es Stimmen gegen Ausschreitungen“

Der Experte für Rechtsextremismus Gideon Botsch vom Potsdamer Moses Mendelssohn Zentrum hält die aktuellen Ausschreitungen gegen Flüchtlinge in Deutschland für brandgefährlich. Im Vergleich zu den Angriffen 1992 sei die Gesellschaft und Politik heute aber wehrhafter gegen den Extremismus.

Herr Botsch, die Ausschreitungen gegen Asylbewerber und ihre Unterkünfte erinnern an die ausländerfeindlichen Übergriffe von Rostock-Lichtenhagen 1992. Bekommen wir wieder eine Situation wie damals?

Die Situation ist tatsächlich brandgefährlich. Die vorhandenen Strukturen bei der Aufnahme von Flüchtlingen versagen, die unzureichenden Unterkünfte machen die Menschen angreifbarer. Während der Ausschreitungen in Rostock-Lichtenhagen 1992 koordinierte sich der harte Kern der Angreifer noch mit CB-Funk – mit den heutigen Kommunikationsmöglichkeiten können die Träger der „Nein-zum- Heim“-Kampagnen sich sehr schnell und flexibel koordinieren und austauschen. Dennoch ist die Situation heute anders: Die Frage des Umgangs mit Flüchtlingen ist umkämpft, es gibt Gegenstimmen in Staat, Gesellschaft und Politik.

Wo stehen wir heute?

Anfang der 1990er griffen zwei politische Tendenzen ineinander: die Kampagne gegen „Überfremdung“, die auch damals schon stark von NPD und Neonazis getragen wurde, und die politische Absicht der CDU-geführten Bundesregierung, den Asylrechtsartikel im Grundgesetz einschneidend zu verändern. Stillschweigend gab es da viel Sympathie auch bei Sozialdemokraten, insbesondere bei Kommunalpolitikern, und unter dem Eindruck des brennenden Wohnheims in Lichtenhagen signalisierte die SPD ihre Zustimmung zur Asylrechtsänderung. Sympathie für oder auch nur Empathie mit den Flüchtlingen war selten.

Teilen Sie Befürchtungen, dass angesichts des starken Flüchtlingszustroms die positive Stimmung im Land kippen könnte?

Das sehe ich auch – aber man muss doch auch das große Engagement vieler Menschen zur Unterstützung der Flüchtlinge sehen. Heute ist die Haltung der Politik uneinheitlicher als 1992. Selbst wo Politiker auf stärkere Abschottung und Abschreckung setzen, vermeiden sie in der Regel die aggressive und menschenfeindliche Rhetorik, die in Politik und Medien in den frühen 1990ern noch verbreitet war. Vor allem Journalisten haben seither viel dazu gelernt.

Aktuell wird debattiert, ob Rechtsextremismus ein spezifisch ostdeutsches Problem ist. Was hat sich im Osten getan?

In den ostdeutschen Bundesländern sind gerade in der Abwehr von Rassismus und Rechtsextremismus demokratische und zivilgesellschaftliche Strukturen entstanden – besonders in Brandenburg, wo die Politik dies seit Ende der 1990er auch gezielt gefördert hat. Angesichts der aktuellen Krise wird sich allerdings zeigen, wie belastbar und stabil diese Strukturen sind.

Ist die Stimmung in Brandenburg eine andere als in Sachsen?

Die Kräfte, die sich den Rassisten und Ausländerfeinden entgegenstellen, sind in Brandenburg sehr viel stärker, nicht nur in der Zivilgesellschaft, sondern auch in der Politik, und auch die staatlichen Behörden – Polizei, Staatsanwaltschaft, Kommunalverwaltung – nehmen ihre Verantwortung zumeist sehr ernst. Das ist nicht nur eine Frage der Zahlenverhältnisse, sondern auch des Bewusstseins, der Kommunikation untereinander, letztlich der „Organisation“. Brandenburg hat seine gut vernetzten lokalen Bündnisse, und es hat ein landesweites und gesellschaftlich sehr breites Aktionsbündnis. Schließlich besteht in Sachsen seit Jahren die Tendenz, antirassistische Gegenaktivitäten misstrauisch zu beäugen, als das eigentliche Stör- und Bedrohungspotenzial zu sehen und deshalb in unverhältnismäßiger Weise gerade gegen diejenigen vorzugehen, die Demokratie und Menschenrechte verteidigen.

Es gibt nun auch zunehmende Hetze gegen Politiker, die sich für Flüchtlinge einsetzen.

Linke Politiker und Gewerkschafter stehen seit Langem – und das wird oft übersehen – im Fokus rechtsextremer Übergriffe. Büros der Partei Die Linke werden regelmäßig attackiert und beschmiert. In den letzten Jahren trifft es auch menschenrechtsorientiert argumentierende Politiker anderer Parteien, besonders wenn sie selbst einen Migrationshintergrund haben. Auch die Formen haben sich geändert. Es geht viel schneller, eine Hass-Mail zu versenden, als einen Leserbrief zu tippen. Wichtig ist, dass sich niemand davon einschüchtern lässt, dass Polizei und Staatsanwaltschaften tätig werden, dass die politischen Parteien und Lager bei allen Differenzen an diesem Punkt Einigkeit beweisen.

Sind die Ursachen und Motive heute die gleichen wie 1992?

Weltweit sind so viele Menschen auf der Flucht wie seit 1945 nicht mehr. Die meisten, die nach Deutschland streben, haben wenig Chancen, unser Land zu erreichen, selbst wenn sie – wie im Fall der Syrien- oder Irak-Flüchtlinge – mit über 90-prozentiger Wahrscheinlichkeit hier einen Schutzstatus erhalten würden. Bei Deutschlands Anteil von 1,5 Prozent der Weltbevölkerung sind die Zahlen objektiv nicht überproportional hoch. Denken Sie an die Binnenflüchtlinge in den Krisenstaaten, an die erschütternden Flüchtlingszahlen in Syriens Nachbarländern. Der Libanon hat etwa so viele Einwohner wie Brandenburg, etwas mehr vielleicht – und hier sind weit über eine Millionen Flüchtlinge angekommen.

Was bereitet Ihnen an der aktuellen Lage besonders Sorge?

Der Syrienkrieg wird von allen Seiten – vielleicht mit Ausnahme der kurdischen YPG – mit ungeheurer Brutalität, auch und gerade gegen Zivilisten geführt. Wir müssen mit hochgradig traumatisierten Flüchtlingen rechnen. Zugleich kommen aus verschiedenen Regionen auch Menschen zu uns, die selbst islamistische Ideologien teilen, man muss sehen, ob dadurch die Terrorismusgefahr wächst. Angesichts der unzureichenden Unterkünfte und der langen Bearbeitungsdauer von Asylanträgen entstehen jedenfalls ernstzunehmende Probleme. Nicht nur vor einheimischen Fremdenfeinden, auch vor Verfolgung, Anfeindungen und Anpassungsdruck in den Flüchtlingsheimen müssen die Flüchtlinge sicher sein.

Wie sehen Sie das Problem der Roma?

Eine besondere Flüchtlingsgruppe sind Roma aus den Balkanstaaten, in der Regel etwa 60 Prozent der Schutzsuchenden aus diesen Ländern. Ihre Fluchtgründe werden fast nie anerkannt, Einzelfallprüfungen unterlaufen oder abgeschafft. Neben dem Massensterben auf dem Mittelmeer ist aber die Behandlung der Roma Europas eine Schande! Wenn heute von allgemein wirtschaftlichen Gründen für die Migration der Balkanflüchtlinge gesprochen wird, so steht das im Widerspruch zu den Erkenntnissen über die systematische Diskriminierung der Roma-Minderheiten, die in den meisten Balkanstaaten mit ursächlich für deren bittere Armut ist.

Wie sollte man hier reagieren?

Wenn man die Lebensrealität der Roma nicht als Asylgrund anerkennen kann, und andererseits die Programme für Verbesserungen in den Herkunftsländern unwirksam bleiben, muss man Alternativen suchen. Die könnten durchaus darin bestehen, Bedingungen für eine legale Einreise, Ausbildung und Integration in den Zielländern zu schaffen – auch in Deutschland, auch in Brandenburg.

Wer schürt heute bei uns die Stimmung gegen Flüchtlinge?

Milieus und Subkulturen, die wir als Elemente einer „unzivilen Gesellschaft“ bezeichnen können. Sie sind nicht immer, aber sehr häufig gewaltaffin, sie verfügen über gefestigte, teils allerdings informelle Strukturen. Eine besondere Rolle spielen in allen ausländer- und flüchtlingsfeindlichen Mobilisierungen Freundes- und Bekanntenkreise aus bestimmten Fußballfan- und Hooligan-Szenen. Sie greifen auf einiges Potenzial an organisatorischer Erfahrung zurück, auf eingespielte Kommunikationsnetze, auf taktisches Verhalten bei Massenversammlungen und auch in der Konfrontation mit der Polizei. Das gilt auch für die Vorbereitungskreise von Pegida-Demos und Ähnlichem. Hinzu kommt der militante Rechtsextremismus, nicht zuletzt auch die NPD, die in den „Nein-zum-Heim“-Kampagnen sehr präsent ist, Logistik stellt, deren Aktivisten als Anmelder und Redner auftreten. Schließlich gibt es auch neue Akteure im Rechtsextremismus, etwa die Gruppe „Der III. Weg“. Diese neonazistische Formation wird in Brandenburg angeführt von einem Mann, dessen Zwillingsbruder sich derzeit in München wegen des NSU-Komplexes vor Gericht verantworten muss und der auch selbst zum Umfeld des NSU zu rechnen ist.

Sie beobachten das rechtsextreme Spektrum seit vielen Jahren. Ist es gefährlicher geworden?

Das rechtsextreme Milieu, das sich selbst als „nationales Lager“ versteht, erlebt seit Jahrzehnten einen stetigen Wechsel von Aufschwung und Niedergang. In den letzten Jahren war es in Brandenburg eher schwach, nun könnte es sich regenerieren. Eine besondere Gefahr besteht in der Abkoppelung „unziviler Gesellschaften“, die am gesellschaftlichen Diskurs nicht mehr teilnehmen wollen und sich quasi ihre eigene Welt basteln. Das lässt sich derzeit schwer quantifizieren. Wir haben aber den Eindruck, dass sich diese Strukturen verfestigen und gesellschaftlich ausstrahlen.

Es gibt nun auch zunehmend tätliche Angriffe gegen einzelne Asylsuchende bzw. Ausländer. Die Opferperspektive verzeichnet im Vergleich zum Vorjahr einen starken Anstieg von rechter Gewalt in Brandenburg. Deckt sich das mit Ihren Erkenntnissen?

Eindeutig. Die Gefährdung ist gewachsen, der Schutz ist schwächer. Die Polizei in Brandenburg kann viele „normale“ Problemlagen personell kaum mehr bewältigen, der Schutz der Flüchtlinge kommt nun als weitere Herausforderung hinzu. Auch die zivile Gesellschaft ist heute gefordert, ein Umfeld und Klima zu schaffen, das den geflüchteten Menschen ein sicheres und menschenwürdiges Leben garantiert. Denn egal, ob ihre Asylanträge anerkannt werden oder nicht: die Hoffnung, in Deutschland ein besseres Leben führen zu können, ist weder kriminell noch unmoralisch.

Wie sollte die Politik reagieren, emotional wie Vizekanzler Gabriel, der von „Mob“ und „Pack“ sprach?

Auch Politikerinnen und Politiker sind Menschen mit individuellen Charakterzügen: der eine reagiert emotional, der andere sachlich. Entscheidend ist doch die klare Positionierung.

Die Kanzlerin hat sich bereits an die Öffentlichkeit gewand. Braucht es auch eine Regierungserklärung?

Es wird oft vergessen, dass die heutige Bundeskanzlerin sich Anfang der 1990er Jahre als Jugend- und Familienministerin für die Programme verantwortlich zeichnete, mit denen seinerzeit rechtsextremer Gewalt begegnet werden sollte. Ihr ist damals vorgeworfen worden, das Problem zu entpolitisieren, zu verharmlosen und auf Jugendgewalt zu reduzieren. Eine Lehre aus dem Verhalten der damaligen Bundesregierung sollte aber sein, dass Angriffe auf Flüchtlinge „Chefsache“ sind und eine schnelle, entschlossene und eindeutige Reaktion erfordern – und zwar nicht erst, wenn die Gewalt eskaliert.

Welche Rolle spielt die Asylpolitik der Bundesregierung in der aktuellen Eskalation?

Einzelne Maßnahmen sehe ich sehr kritisch, andere sind vernünftig – aber das scheint mir nicht das Hauptproblem zu sein. Wir benötigen einen grundlegenden, doppelten Paradigmenwechsel in der Politik. Migration ist eines der prägendsten Phänomene unserer Zeit – sie bedarf der politischen Regelung und Steuerung, auch der gesetzlichen Regelung. Als zentraler Maßstab von Migrationspolitik gilt heute das „nationale Interesse“, nicht zuletzt das ökonomische Interesse. Wir bedürfen aber in der Einwanderungspolitik vor allem einer menschenrechtlichen Orientierung.

Was meinen Sie damit?

Dreh- und Angelpunkt der Asylpolitik ist heute die Minimierung der Fallzahlen und die Verkürzung der Aufenthaltsdauer. Menschenrechtliche Perspektiven in der Asylpolitik könnten indes zu viel sinnvolleren Regelungen führen – und vermutlich auch zu kostengünstigeren. Ist das Geld, das wir in die Sicherung der Außengrenzen und die Frontex-Operationen investieren, dort wirklich besser angelegt als in Programmen, die eine Verbesserung der Lage der Flüchtlinge bringen?

Ist die Öffentlichkeit über die aktuelle Situation ausreichend informiert?

Die Möglichkeiten, sich zu informieren, sind besser als früher. Mein Lieblingsprojekt ist mediendienst-integration.de mit seinen sachlich-nüchternen Hintergrundinformationen, Dossiers und Faktencheck-Artikeln. In Zeiten der „Lügenpresse“-Rhetorik, mit ihrer Lieblingsphrase „Das is’ aber so!“, muss man allerdings auch von einer großen Informationsresistenz und -verweigerung ausgehen. Wer sein Vorurteil pflegen will, lässt sich nicht belehren.

Was erwarten Sie vom Flüchtlingsgipfel der Bundesregierung am 9. September?

Mehr Engagement des Bundes, wirksame Unterstützung der Länder und Kommunen, ein klares Bekenntnis zum Asylrecht.

Was halten Sie von Demonstrationsverboten vor Flüchtlingsheimen oder Verboten von rechten Kameradschaften und Parteien? Ist davon eine Beruhigung der Situation zu erwarten?

Der rechtlich gegebene Rahmen sollte ausgeschöpft werden, wo es um den individuellen und kollektiven Schutz der Flüchtlinge geht. Schutz nicht nur vor Gewalt, sondern auch vor kollektiven Beleidigungen. Verbote neonazistischer Vereine und Kameradschaften haben in Brandenburg erfolgreich dazu beigetragen, die rechtsextreme Szene zu schwächen – andere Länder könnten prüfen, ob sie hier nicht mehr machen können. Es war auch richtig, ein NPD-Verbot zu beantragen, trotz aller Risiken. Ich finde es bedauerlich, dass Bundesregierung und Bundestag die Länder damit allein gelassen haben. Aber Verbote sind die Ultima Ratio und können nur Bausteine einer integrierten Strategie sein.

Das Interview führte Jan Kixmüller

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ZUR PERSON: Gideon Botsch (Jg. 1970) ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Moses Mendelssohn Zentrum (Schwerpunkt Antisemitismus- und Rechtsextremeforschung) und Privatdozent für Politikwissenschaft an der Uni Potsdam.

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