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Auf dem Campus der Freien Universität. Im direkten Austausch sollen sich Studierende möglichst bald wieder begegnen können – und nicht länger nur virtuell.

© Bernd Wannenmacher

Studieren in der Corona-Pandemie: „Wir brauchen eine Perspektive für diese jungen Menschen“

Das dritte Corona-Semester hat begonnen: Ein Gespräch mit den Psychologen Stefan Petri und Michael Cugialy von der Zentraleinrichtung Studienberatung und Psychologische Beratung der Freien Universität

Video statt Hörsaal und Seminarraum, Heimstudium statt Campus, Alleinsein statt Gemeinschaft: Dass viele Studierende unter der anhaltenden Pandemie und dem daraus folgenden digitalen Studium immer stärker leiden, wissen die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Zentraleinrichtung Studienberatung und Psychologische Beratung der Freien Universität aus den täglichen Sprechstunden. Die promovierten Psychologen Michael Cugialy und Stefan Petri, der die Zentraleinrichtung leitet, erläutern, wie sie mit ihrem Team versuchen, Studierende durch flexible Beratungsangebote und speziell auf die Situation ausgerichtete Veranstaltungen zu unterstützen.

Herr Cugialy, Herr Petri, mit welchen Problemen kommen die Studierenden derzeit zu Ihnen?

Michael Cugialy: Im Grunde mit denselben, mit denen die Studierenden sonst auch kommen: vor allem depressive Erkrankungen und Arbeitsstörungen. Doch durch die Pandemie ist das stärker ausgeprägt; nun kommen außerdem Gefühle von Isolation und Einsamkeit dazu und die Schwierigkeit, im Heimstudium mit anderen in Kontakt zu treten. Das betrifft vor allem Menschen, denen es von der Persönlichkeit her ohnehin schwerfällt, auf andere zuzugehen, aber auch Studierende, die fremd in Berlin sind, weil sie beispielsweise aus dem Ausland an die Freie Universität kommen.

[Die Fragen stellte Christine Boldt]

Stefan Petri: In der Studienberatung sind es auch ähnliche Probleme wie sonst, zurzeit vor allem Fragen zur Studienfachwahl. Neu ist, dass viele mit stärkeren Zweifeln kommen: Bin ich richtig hier? Bin ich richtig an der Uni, richtig in meinem Studienfach? Um weiterzuhelfen, versuchen wir, erst einmal herauszufinden, woher die Zweifel rühren: Ist jemand unzufrieden mit dem Studium, so, wie es gerade stattfindet – also online? Dann ist man nicht am falschen Ort – eher zur falschen Zeit am richtigen Ort. Oder liegt es wirklich am Fach? Verunsichert sind vor allem Studierende im ersten Semester, die das Studium bisher nicht anders als digital kennengelernt haben.

Stefan Petri
Stefan Petri

© privat

Wie können Sie in der derzeitigen Situation vor allem Studienanfängerinnen und Studienanfängern helfen?

Cugialy: Wir versuchen ihnen zu vermitteln, dass die Universität und das Studium so, wie sie sie gerade kennenlernen, wenig mit dem Lebensgefühl zu tun haben, wie Universität und Studium eigentlich sind. Das typische Unigefühl – ich gehe an meine Uni, in meine Mensa, sehe meine Leute – all das entfällt. Jetzt kann es nur darum gehen, wie man das Beste aus der Situation macht.

Und wie macht man das Beste aus der Situation?

Cugialy: Indem man versucht, größtmögliche Lebensqualität zu schaffen. Regelmäßige Kontakte und Rituale spielen dabei eine wichtige Rolle, eine Tagesstruktur und kleine Höhepunkte: So kann man sich vornehmen, jeden Tag einen Freund oder eine Kommilitonin zu kontaktieren, per Telefon oder Video oder jemanden – nach den geltenden Regeln – zu treffen. Alle sitzen im Moment schließlich im selben Boot, und alle sind froh, wenn sich jemand meldet. Wichtig ist, seine Tage nicht wie einen verkaterten Sonntag zu gestalten – denn dann fühlt man sich auch verkatert, schlecht und irgendwann krank.

Petri: Wir versuchen, Studienanfängern den Druck zu nehmen, jetzt möglichst viele ihrer Kommilitoninnen und Kommilitonen kennenlernen zu müssen. Es heißt ja oft: Das Studium ist die tollste Zeit meines Lebens. Das stimmt für viele, und so soll es auch wieder werden. Aber man kann Menschen, die man nur aus Videos kennt, nicht richtig kennenlernen. Viele sind gar nicht erst nach Berlin umgezogen, sondern studieren aus ihrem Kinderzimmer von zu Hause aus. Sie können ihr Netzwerk dort pflegen, Freunde aus der Schulzeit treffen – und müssen sich nicht unter Druck setzen, auch noch neue Leute kennenzulernen.

Geben Sie ganz praktische Tipps für den Studienalltag in Corona-Zeiten?

Petri: Es ist hilfreich, den Tag durch Routinen zu strukturieren – beispielsweise, indem man einen Arbeitsweg schafft: Ich gehe aus dem Haus, eine Runde um den Block und setze mich erst dann an den Schreibtisch. Oder indem man Pausen integriert und eventuell einen freien Tag in der Woche einplant. Und dann ist jeder anders: Für manche ist es gut zu wissen, dass sie immer dienstags zu einer bestimmten Zeit ein Seminar haben. Andere genießen die Flexibilität, sich eine Vorlesung auch einmal später anzusehen. Oder anzuhören: Viele hören sich Vorlesungen jetzt als Podcasts an. Routinen sind individuell und können natürlich jederzeit verändert werden.

Wie wirkt sich die aktuelle Situation auf Ihre Arbeit in der Beratung aus?

Cugialy: Da hat sich auch für uns viel verändert. Der persönliche Kontakt gehört ja fest zu unserer Arbeit: Man sitzt sich gegenüber und durchläuft gemeinsam einen therapeutischen Prozess. Der Wechsel von Präsenz auf Telefon und Video im vergangenen Frühjahr war für uns und die Ratsuchenden deshalb eine große Umstellung. Nachdem wir zu Beginn der Pandemie zunächst nur telefonisch beraten haben, gab es eine kurze Phase im Sommer mit Terminen vor Ort. Seit Herbst beraten wir wieder nur telefonisch und über Video. Es ist grundsätzlich gut zu merken, dass es funktioniert – vor 15 Jahren wäre ein Videogespräch technisch ja gar nicht möglich gewesen. Aber es ist natürlich am besten, sich persönlich gegenüberzusitzen. Allerdings ist ein Gespräch per Video ohne Maske besser als ein Präsenz-Gespräch mit Maske: Dafür spielt die Mimik einfach eine zu große Rolle.

Michael Cugialy
Michael Cugialy

© Jan Reyen

Hat die Möglichkeit, über Video zu beraten auch Vorteile gegenüber Präsenz- Sprechstunden? Anders gefragt: Was wird bleiben nach Corona?

Cugialy: Auf jeden Fall: Wenn ein Student oder eine Studentin Hilfe braucht, aber nicht in der Lage ist, persönlich in die Sprechstunde zu kommen, können wir über Video beraten. Oder wenn unsere Studierenden während eines Auslandssemesters in eine Krise geraten – dann können wir jetzt von Berlin aus helfen.

Petri: Auch in der Studienberatung werden wir weiter zusätzlich mit Video arbeiten, dadurch erreichen wir einfach mehr Menschen – und mehr Menschen erreichen uns. Ein weiterer Vorteil: Man kann sehr leicht Dokumente hochladen, Formulare verschicken. Und ja, das sehe ich auch so: lieber per Video ohne Maske als mit Maske in Präsenz.

Wie unterstützen Sie Studierende in der aktuellen Situation?

Petri: Wir haben gemerkt, dass wir stärker auf sie zugehen müssen, vor allem auf Studierende in den ersten Semestern. Deshalb haben wir im Februar die Veranstaltung „Lost in Digitalization“ organisiert. Es ging darum, gemeinsam im Plenum und in Kleingruppen herauszufinden, wo der Schuh drückt, wo Studierende Unterstützung brauchen. Da war mit zehn Personen das gesamte Team der Studien- und Psychologischen Beratung am Start. Auf Grundlage der Ergebnisse haben wir mehrere spezielle Angebote konzipiert: zur Prüfungsvorbereitung etwa und zu den Themen Prokrastination, Studienzweifel und Einsamkeit. Ich kann mir gut vorstellen, dass wir es in der Zeit nach der Pandemie beibehalten, spezielle Angebote für Gruppen anzubieten: für Studienanfängerinnen und -anfänger oder für Studierende, die aus dem Ausland an die Freie Universität kommen.

Nicht alle, die Hilfe brauchen, melden sich oder finden den Weg zu Ihnen – wie können Sie diese Menschen erreichen?

Cugialy: Möglichst viele sollten erfahren, dass es die Studien- und Psychologische Beratung an der Freien Universität gibt. Die Initiative, sich Hilfe zu holen, muss letztlich immer von den Betroffenen selbst kommen, aber manchmal hilft ein Anstoß von der Familie, von Freunden oder der Wohngemeinschaft. Es gibt aus therapeutischer Sicht Grenzen, wie stark man als Beratungseinrichtung auf Menschen zugeht. Man kann das nicht forcieren, das hätte sonst etwas Bedrängendes und Grenzüberschreitendes.

Gerade hat das dritte Corona-Semester angefangen – wie lange hält man eine solche Krise aus? Wie lange hält die Universität sie aus?

Petri: Die Antwort ist nicht schön, ich fürchte, sie muss lauten, dass wir das sehr lange aushalten können: Menschen können auch schlechte Situationen lange aushalten; sie passen sich an. Aber vielleicht müsste die Frage eher heißen: Wie lange wollen wir das aushalten? Vor einem Jahr haben wir gedacht, wir tunneln uns durch bis zu den Osterferien – wohlgemerkt bis zu den Osterferien 2020. Wir brauchen jetzt eine Perspektive, wie die Hochschulen aus der Situation herauskommen. Deshalb ist es ist richtig und wichtig, dass so stark betont wird, dass die Universität eine Präsenzuniversität ist – und es auch bleibt. Die universitas – das ist die Gemeinschaft, der Austausch mit anderen. Diese Gemeinschaft lässt sich auf Dauer nicht über Video oder Telefon herstellen und pflegen. Aber ich möchte den Fokus noch einmal auf die Studienanfängerinnen und -anfänger lenken. Ich mache mir Sorgen, dass wir viele derer, die in diesem Jahr ihr Studium aufnehmen, wieder verlieren werden, weil sie sich Universität und Studieren anders vorgestellt haben. Im Oktober kommt der zweite Jahrgang, der sein Abitur während der Pandemie gemacht hat, an die Universitäten: Diese jungen Menschen brauchen eine Perspektive.

Wie motivieren Sie sich ganz persönlich, um durch die belastende Zeit zu kommen?

Petri: Meine Arbeit, der Kontakt mit den Studierenden, das motiviert mich und gibt mir viel zurück. Und die Gewissheit, dass es ein Danach geben wird – ein Danach, das viel mit Gesellschaft und Gemeinschaft zu tun haben wird.

Cugialy: Mein Tipp: Schöne Dinge und Belohnungen nicht auf die Zeit nach der Pandemie zu verschieben, sondern jetzt kreativ zu sein und für Lebensqualität zu sorgen. Der Fokus sollte auf dem Jetzt liegen.

Christine Boldt

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