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Diagnose Krebs. Doch Lothar Altenkirch beschloss zu kämpfen und wollte nach New York.

© Peter Könnicke

Der Golzower hatte Krebs im Endstadium: Heute läuft Lothar Altenkirch Marathon

Es begann mit einem geschwollen Bein, dann wurde bei dem Golzower Lothar Altenkirch Krebs diagnostiziert. Jahre später läuft er Marathon. Es ist die Gier aufs Leben, die ihn antreibt.

Potsdam - Irgendwo auf dem langen Weg hat ihn jemand gefragt, warum er hier sei. Was er suche. Wie konnte ein völlig Fremder ahnen, dass er etwas suche? Eben weil er auf dem Weg war, einem besonders langen und steinigen.

Lothar Altenkirch war 18 Jahre, da sagten ihm Ärzte, dass er nicht mehr lange leben würde. Er hatte seine Kindheit und die Schule gerade hinter sich – in Golzow, einem kleinen märkischen Dorf, in dem er davon träumte, einmal nach New York zu reisen. Schon die Kinderärztin attestierte ihm, dass er zu klein und zu schmächtig sei, nicht geeignet für eine reguläre Schule. Er zürnte innerlich, schaffte es auf eine ganz normale Schule, wo ihm seine Klassenlehrerin regelmäßig sagte, dass er es zu nichts bringen würde. Zu ihrem Erstaunen machte er seinen Schulabschluss und begann eine Lehre zum Obst- und Landschaftsgärtner, wie schon sein Großvater. Lothar Altenkirch ging auf alten Pfaden.

Irgendwann schwollen sein rechtes Bein und der Fuß an

Der Pfad machte seine erste Abzweigung auf einer Busfahrt nach Italien. Es war ein Montag, im Juni 2009, eine Exkursion zu den botanischen Gärten und Plantagen in der Toskana, als sein rechtes Bein und der Fuß anschwollen. Die Schmerzen waren so unerträglich, dass ihm die italienischen Gartenbaukünste egal waren. Zurück zu Hause begann eine Odyssee von Arzt zu Arzt. Nach sechs Wochen meinten die Mediziner, eine Diagnose gefunden zu haben. Aus der anfänglichen Vermutung einer Venenthrombose wird die Schocknachricht: Er habe das Hodgkin-Lymphom. Krebs! Es ist inzwischen Mitte Juli, doch Altenkirch hofft auf einen Aprilscherz. Dass es keiner ist, erfährt er erst später. In jenem Sommer jedoch korrigieren die Ärzte ihren Befund: Kein Krebs, aber Darm und Leber sind chronisch entzündet.

Er fährt nach Hause, macht Ferien an der Ostsee und die Lehre weiter. Der Herbst kommt, die Äpfel sind reif und Altenkirch geht es wieder schlechter. Der Rücken schmerzt, er quält sich durch die Prüfungen und die Obsternte, muss sich immer wieder krankmelden. Eines Morgens wacht er mit einem geschwollenen Lymphknoten am Hals auf. Das sehe nicht gut aus, sagt der HNO-Arzt, nimmt eine Gewebeprobe und eröffnet dem 18-Jährigen: „Sie haben Krebs im Endstadium.“ Der Doktor googelt „plasmoblastisches Lymphom“, drückt Altenkirch den Wikipedia-Ausdruck in die Hand und überweist ihn zur Onkologie. Er bekommt einen Platz in der Charité, wo ihm die Ärzte bestätigen: Krebs im letzten Stadium. Zudem eine sehr seltene Art, zu der es kaum Studien und Erfahrungen mit Patienten in diesem jungen Alter gibt. Der Krebs hat sich bereits weit ausgebreitet und die Wirbelsäule angegriffen. Die Ärzte geben Altenkirch noch drei Monate.

Wenige Tage nach der Diagnose bekommt er seine erste Chemotherapie

„Das soll schon alles gewesen sein?“, fragt sich Altenkirch. „Das war ja noch nicht viel“, erinnert er sich an die Gedanken, die in seinem Kopf drehten. Und an die Fragen: „Was habe ich falsch gemacht? Was hätte ich anders oder besser machen können?“ Er habe sein Leben doch noch gar nicht richtig gelebt. Schluss? Hier? Jetzt schon?

Er schüttelt den Kopf. „Ich werde anständig kämpfen.“

Wenige Tage nach der Diagnose bekommt er die erste von sechs Chemotherapien. Vier Tage strömt nonstop 24 Stunden lang ein hochdosierter Mix an Chemikalien durch seinen kranken Körper. Er zieht ihm jegliche Kraft aus dem Leib, bald kann er während der Therapiepausen, die er zu Hause verbringt, nur noch kriechen. Zwischen den Chemo-Zyklen muss er zu ambulanten Kontrollen. Nach der ersten Infusion kämpft er sich die Treppen ein Stockwerk hoch ins Sprechzimmer, wo er schließlich einem Arzt gegenübersitzt. „Der trug Jeans, ein T-Shirt, hatte überall Tattoos und Piercings. Der fuhr Motorrad“, sagt Altenkirch. Und der Arzt hat etwas, das sich wie eine Gravur in seinen Kopf fräst: An der Sprechzimmerwand hängt eine Urkunde des New-York-City-Marathons. Es sind zunächst die zwei Worte „New York“, die einen Reflex bei ihm auslösen, wie ein Codewort, auf das er anspringt. New York! Das klingt nach heftigem Pulsieren, nach Hektik. Nach Leben. 

In seiner Wirbelsäule bilden sich Hohlräume

Sein Herzschlag setzt in diesem Moment aus. Geschwächt von der Chemo bricht Altenkirch in dem Sprechzimmer zusammen, er verliert das Bewusstsein und muss reanimiert werden. Als er aufwacht, ist die Marathon-Urkunde verschwunden. Altenkirch schaut in die Gesichter besorgter Ärzte, eine Atemmaske klemmt vor seinem Gesicht, ein EKG zeichnet seine Lebenslinie: Dünn zwar, aber immer noch da.

Die Chemo geht weiter. Der ständige Geschmack von Blei bleibt, ebenso die Schmerzen. In der Wirbelsäule bilden sich Hohlräume. Die Ärzte betäuben ihn mit Morphium, die Hohlräume wollen sie mit Zement füllen, während sie seine Hoffnungen auflösen: Wenn er überlebt, werde er nie wieder richtig laufen können, sondern im Rollstuhl sitzen. Sie sagen, dass seine Wirbelsäule brechen könne.

Im Herbst 2010 wog er nur noch 39 Kilo

Nach sechs Chemo-Zyklen und einer Stammzellentransplantation ist der Krebs gestoppt. Der Überlebenskampf dauerte Monate. Altenkirch hat gelernt, Schmerzen zu ertragen, wenn sich 30 Zentimeter lange, einen halben Zentimeter dicke Punktiernadeln in den Körper bohrten. Er hat die Dämonen ausgehalten, die sich nachts in sein Krankenzimmer schlichen und ihm den Tod verhießen. Er hat die bösen Geister verjagt, die ihm ständig zuflüsterten, besser aufzugeben, wenn er wieder einmal einsam und verloren auf einem Klinikflur lag und Stunden auf die nächste Behandlung wartete. Er hat die Depressionen durchlitten, die stark wurden, wenn ihn der Mut verließ.

Im Herbst 2010 wog er nur noch 39 Kilo, saß im Rollstuhl, jede Bewegung schmerzte und kostete Kraft. Den Spiegel zuhause hatte er von der Wand genommen, das Bild konnte er nicht ertragen. Es sah aus wie der Tod. Aber er lebte. Und er wollte das Leben genießen, für das Pizza und Burger, ein Sportwagen und ein Boot die vermeintlichen Zutaten waren. Er fuhr hunderte Kilometer zu Fußballspielen, zu Automessen, lernte Frauen kennen. Er begann eine neue Ausbildung zum Bürokaufmann. Sein Leidensweg hatte ihn zurück ins Leben geführt, er genoss es. 

Er fragte sich, was der Krebs ihn lehren wollte

Doch irgendetwas ließ ihn immer wieder fragen, was ihn der Krebs lehren wollte. In stillen Momenten wurden die Fragen immer lauter. 

Es folgten weitere Klinikaufenthalte und Reha-Kuren. Immer wieder gab es neue Diagnosen, die korrigiert wurden, die aber immer wieder neues Kopfkino mit ähnlicher Dramaturgie abspulten. Altenkirch entwickelte seine eigene Methode, damit umzugehen: Mal nahm er es mit Ironie, mal schleuderte er den Ärzten seine ganze Wut entgegen.

Vor allem aber nimmt er aus der Schwäche einer falschen Diagnose eine trotzige Kraft, eine Gier aufs Leben. Er beginnt, den vermeintlichen Lohn fürs Überleben zurückzugeben, weil er sich noch immer nicht im Leben angekommen fühlt und es ihn nicht glücklich macht. Er verkauft das Auto und sein Boot, entsorgt den Fernseher, Tiefkühlpizzen, das Junkfood. Die Dankbarkeit, noch immer am Leben zu sein, bringt ihn immer mehr zum Nachdenken, wie er leben will. „Nicht materiell, sondern minimalistisch“, sagt er heute. Er fängt an, sich gesünder und bewusster zu ernähren, wird Veganer. Und er begibt sich schließlich auf den Weg, der ihn zu dem Ziel führen sollte, das er als Synonym längst in seinen Routenplaner eingeben hatte, von dem er durch die vielen Umwege jedoch weit entfernt war. 

Dann meldet er sich für einen Halbmarathon an

New York! Das Wort Marathon gesellt sich dazu. Irgendwann, als sich Teile seiner Wirbelsäule auflösten, er keine 50 Kilo mehr wog, er kaum noch einen Schritt machen konnte, fragte er während eines Kontrolltermins seinen Arzt: „Marathon? Würde ich das schaffen?“

Es war im Frühjahr 2015, als er das erste Mal vom Mammutmarsch hörte. 100 Kilometer in 24 Stunden durchs Berliner Umland. „Der Marsch deines Leben“ stand da auf der Internetseite. Er meldet sich an, beginnt zu wandern. Nur zwei Monate sind es von der Anmeldung bis zum Mammutmarsch, den er schließlich in viel zu billigen Schuhen und falschen Socken wandert, sodass er sich die Füße blutig läuft. Er schafft 50 Kilometer, ist total fertig, aber glücklich. Nur Tage später meldet er sich fürs nächste Jahr an. Drei Monate später beginnt Altenkirch, regelmäßig zu joggen. Er druckt sich aus dem Internet einen Trainingsplan aus, läuft in den Wald, der gleich hinter seinem Elternhaus liegt. „Ich habe keine 500 Meter geschafft“, sagt er. Gleich am nächsten Tag probiert er es wieder. Ein Stück gehen, ein Stück laufen. Er braucht ein Ziel, meldet sich für einen Halbmarathon an. Aus 30 Minuten joggen werden 40, aus 40 werden 50. Schließlich schafft er anderthalb Stunden ohne Pause. Den Mammutmarsch 2016 brechen die Veranstalter ab, weil zu viele Teilnehmer zu schlecht vorbereitet sind und medizinisch versorgt werden müssen. Als der Veranstalter den Marsch stoppt, ist Lothar Altenkirch bei Kilometer 57. Im Jahr danach schafft er beim Mammutmarsch die 100 Kilometer.

Er wurde totgesagt und lief sechs Jahre später seinen ersten Halbmarathon

Anfang November 2016, sechseinhalb Jahre, nachdem ihn Ärzte totgesagt hatten, läuft er seinen ersten Halbmarathon. Seine Leberwerte haben sich deutlich verbessert, die Darmentzündung macht sich kaum noch bemerkbar, die Knochendichte nimmt zu und die Wirbelfrakturen ab – ohne Zement. Er besucht seinen Onkologen, den mit den Tätowierungen, und legt ihm die Urkunde des Halbmarathons auf den Tisch. Der geht in einen Nebenraum, telefoniert eine Weile, kommt zurück und sagt: „Versprochen ist versprochen. Du bist dabei.“ Der Arzt hatte ihn soeben über einen Reiseveranstalter für den New-York-Marathon 2017 angemeldet. 

Ein Jahr später steht Lothar Altenkirch in Staten Island an der Verrazano-Narrow-Bridge. Jetzt ist er da, wo der New-York-City-Marathon beginnt: am Ziel seines langen Weges. Die 42 Kilometer bis zum Central Park werden schmerzhaft, aber seine wirklichen Qualen stehen auf seinem Shirt gedruckt: „I am in the fight against cancer!“

Sechs Wochen, bevor er den New-York-Marathon läuft, pilgert Lothar Altenkirch auf dem Jakobsweg von Porto nach Santiago de Compostela. Am vorletzten Tag der 240 Kilometer langen Wanderung begegnet er einem jungen Mann. Sie kennen sich nicht, haben sich noch nie zuvor gesehen. „Du hattest Krebs“, sagt der Unbekannte, „und der Krebs rüttelte dich wach, nicht wahr?“ Lothar Altenkirch starrt ihn irritiert an. Und auf einmal erscheint es ihm ganz klar und simpel. Der Krebs hat ihn auf seinen Weg geführt.

Wo der New-York-Marathon beginnt, war Lothar Altenkirch am Ziel.
Wo der New-York-Marathon beginnt, war Lothar Altenkirch am Ziel.

© privat

Hintergrund: Mutmacher

Lothar Altenkirch aus Golzow läuft am Sonntag die zehn Kilometer beim 16. ProPotsdam Schlösserlauf. Er ist Teil des AOK-Heldenteams, in dem unter anderem Medizinstudenten der Landesarbeitsgemeinschaft für Onkologische Versorgung an den Start gehen. In den AOK-Heldenteams und -staffeln laufen Menschen, die sich in ihrem Leben einer besonderen Herausforderung stellen und die dabei die Erfahrung gemacht haben, dass Sport helfen kann. Lothar Altenkirch möchte mit seiner Geschichte – ganz im Sinn der Heldenstaffeln – anderen Menschen Mut machen.

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