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Das Falsche oder Richtige im Korb gibt es für den Ernährungspsychologen Christoph Klotter nicht. Passen muss es.

© G. Brelour/dpa

Brandenburg läuft: Big Step: „Falsche Ernährung gibt es nicht“

Für den Ernährungspsychologen Christoph Klotter ist bewusstes Essverhalten eine Lebensaufgabe. Im Interview spricht er über das Entstehen von Gewohnheiten und die Herausforderung, diese zu ändern - was dabei keinen Erfolg verspricht: Vorgaben.

Herr Klotter, was ist falsche Ernährung?

Falsche Ernährung gibt es nicht, weil jeder Mensch Nahrungsmittel unterschiedlich verarbeitet. Die ganzen Ernährungsempfehlungen lassen sich reduzieren auf zwei Aussagen: abwechslungsreich und viel Gemüse. Alles andere ist individuell bestimmbar. Wir sagen nicht mehr: Das und das müssen die Menschen essen, sondern wir müssen herausfinden, was jedem Menschen bekömmlich ist. Es ist ein individuelles Finden und keine normative Vorgabe. In der Ernährungswissenschaft widersprechen sich die Befunde alle Jahre, ständig gibt es neue Erkenntnisse, was die bis dahin geltenden Ernährungsempfehlungen überflüssig macht. So können wir nicht mehr arbeiten.

Wie lange dauert dieses Herausfinden, was mich nährt und was mir gut tut? Wann beginnt das und wann hört es auf?

Das ist ein lebenslanger Prozess, herauszufinden, was mir bekömmlich ist in welchem Alter und in welcher Lebenssituation. Wir müssen anfangen, auf unsere eigene Ernährung zu achten und experimentell zu schauen, was mir gut tut. Es geht nicht darum, bestimmte Dinge zu erfüllen. In dem Augenblick, wo mir vorgeschrieben wird, was zu essen ist, bekomme ich Lust auf das, was verboten ist. Wenn ich Lebensmittel in „gesund“ und „ungesund“ einteile, wird das Ungesunde attraktiv. Angenommen, ich würde das Interview stressig finden und weiß, dass Kuchen ungesund ist, dann würde ich demnach hundertprozentig nach dem Interview in die nächste Bäckerei laufen und Kuchen holen.

In Ernährungsberatungen oder auch in der öffentlichen Diskussion wird immer davon gesprochen, dass das Essverhalten geändert werden muss. Was ist eigentlich Essverhalten?

Essverhalten ist zu 80 Prozent unbewusst und emotional, zu 20 Prozent bewusst. Wir essen, was wir schon immer essen, und achten auf das Gewohnte. Die Gehirnforschung sagt, dass wir ganz konservative und traditionelle Esser sind. Ein Stück weit wollen wir mit dem Essen auch konkurrieren und dem anderen überlegen sein. Vegetarier wollen dem Fleischesser überlegen sein, die Veganer den Vegetariern. Ein noch kleinerer Teil des Essverhaltens ist, dass wir explorativ essen und was Neues ausprobieren.

Aber unsere Ess- und Ernährungsgewohnheiten haben sich in den vergangenen Jahren doch sehr verändert – Termindichte, Arbeitszeitverdichtung, Essen und Trinken „to go“ und „Take-Away“ prägen die moderne Esskultur.

Ja, das stimmt. Gleichzeitig steigt der Anteil der qualitätsbewussten Esser. Ein größerer Bevölkerungsanteil isst bewusster als früher. Essen ist eine Identitätsplattform geworden. Wir kreieren über das Essen einen bestimmten Lebensstil. Die Menschen achten mehr darauf, was sie essen und welche Qualität es hat. Vor ein paar Jahren waren das fünf Prozent der Bevölkerung, inzwischen sind es 20 Prozent.

Was bestimmt unser Essverhalten, welche Faktoren und Einflüsse spielen dabei eine Rolle?

Zum einen durch das, was uns in der Kindheit vorgelebt wurde. Zunächst wird gegessen, was die Eltern essen. Wenn es gut geht, entwickeln wir später einen eigenen Ernährungsstil. Aber, wie gesagt, die stärksten Triebkräfte sind Tradition und das unbewusste Essen. Wenn ich vor einem Regal im Supermarkt mit 150 Joghurts stehe, wähle ich maximal zwischen zweien aus. Nicht zwischen 20 oder zehn. Es gibt A und B – und zwischen A und B entscheiden wir uns. Alles andere ist viel zu kompliziert.

Sie sagen, dass es gutes oder schlechtes Essverhalten per se nicht gibt. Dennoch wollen Menschen ihr Essverhalten ändern, sei es, um gesünder zu werden, abzunehmen, leistungsstärker zu sein – aus verschiedenen Gründen. Ist es Ihrer Meinung nach denn überhaupt notwendig, das Essverhalten zu ändern, wenn es kein schlechtes gibt?

Ich finde es super, wenn es partizipativ ist, das heißt, wenn in der Ernährungsberatung gefragt wird: Was willst du machen und wie kann ich dich dabei begleiten? Also nicht von oben herab Ernährungsempfehlungen geben und die Ernährungspyramide herunterbeten. Nicht sagen: Du musst! Wir betrachten das Essen als etwas Privates, bei dem normative Erwartungen nicht funktionieren. Die lösen vielmehr genau das Gegenteil und Widerstand aus. Daher betrachte ich die Ernährungsberatung als einen begleitenden Prozess, in dem individuelle Lösungen gefunden werden – und das eher vom zu Beratenden selbst als vom Berater.

Ist es deshalb so schwierig, das Essverhalten zu ändern, weil es häufig vorgeschrieben wird?

Ganz genau. Das Vorschreiben prallt ab. Niemand will sich da hineinregieren lassen. Ein gutes Beispiel ist der Bundestagswahlkampf 2013: Der Veggie-Day hat den Grünen fünf Prozent gekostet. Die Mehrheit der Menschen will, dass das Essen nicht vorgeschrieben oder gar staatlich regiert wird.

Was ist der Grund, dass Menschen nach einer Umstellung ihrer Ernährung und Änderung ihrer Essgewohnheiten doch wieder in alte Verhaltensmuster zurückfallen?

Weil wir Gewohnheitstiere sind. Wir können neue Dinge entwickeln, aber das ist etwas Langsames und Langfristiges. Die neuralen Muster ändern sich nicht von heut auf morgen. Ein sechswöchiger Kurs zur Gewichtsreduktion kann nett sein, aber wirksam ist es nicht. Wir müssen Änderungen des Essverhaltens langfristig denken und immer unter Begleitung. Die wichtigste Tugend ist Geduld. Die Bikinifigur oder Waschbrettbauch in sechs Wochen funktionieren nicht.

Es ist eine Lebensaufgabe?

Richtig. Ich muss einen Horizont der Jahrzehnte haben, was in unserer heutigen Medienwelt schwierig ist. Wenn auf den Titelseiten der Zeitschriften keine schnellen Diät-Versprechen sind, werden sie nicht gekauft. Das liegt nicht an den Medien, sondern an der Erwartungshaltung der Menschen. Die Illusion wird verlangt, auch wenn sie schädlich ist.

Essen soll Spaß machen, sättigen, gesund und gesellig sein, Essen soll zeitgemäß sein, zudem Belohnung. Wir haben so viele Ansprüche ans Essen – überfordern wir das Essen als solches nicht selbst?

Das ist eine wunderbare Frage. Es sind unglaublich widersprüchliche Dinge, die das Essen zu erfüllen hat und sie sind in der Tat verwirrend, sodass ich die Fahne etwas auf halbmast setzen würde. Ja, Essen soll Spaß machen, weil es der zentrale Verstärker in unserem Leben ist. Und ich muss mich darum kümmern, was mir Spaß macht. Das verlangt einen sorgsamen Umgang und eine Aufmerksamkeitssteuerung auf das Essen.

Warum braucht es zunehmend Anleitung dafür, achtsam und aufmerksam zu sein und sich bewusst zu machen, wie wir uns ernähren?

Wir leben in einer Beratungsgesellschaft. Von der Fußsohle bis zu den Haaren gibt es Beratungsangebote. Unsere moderne Gesellschaft hat einen Bildungsauftrag, das heißt, dass die Menschen in einem angelegten Bildungssystem ihre Talente optimieren können. Dazu gehört der Beratungsauftrag, um die Lebenssituation individuell verbessern zu können.

Wenn ich weiß und gelernt habe, wie ich mich selbst wahrnehme, bin ich am Ende mein eigener Berater?

Exakt. Die Sorge um sich selbst ist eine antike Tugend.

ZUR PERSON:

Prof. Christoph Klotter (61) lehrt Ernährungspsychologie und Gesundheitsförderung an der Hochschule Fulda und arbeitet als Ernährungs- und Gesundheits-Psychologe in Berlin.

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