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Suchen die Herausforderung. Jasper von Lewinski (l.) und Jeremias Gestrich, Schüler einer 10. Klasse am Potsdamer Humboldtgymnasium, tauschen für die kommenden sechs Monate Klassenraum gegen Segelschiff.

© Andreas Klaer

Potsdamer Schüler lernen auf Weltreise: Mit Windkraft durch die zehnte Klasse

Navigieren und Segel setzen, Backschaft und Physik: Zwei Potsdamer reisen auf dem Schulsegelschiff über den Atlantik. Billig ist die einmalige Erfahrung nicht.

Mit seinem selbstgebackenen Brot war Jeremias nicht recht zufrieden. „Das muss ich noch üben. An Bord wird nur einmal in der Woche gebacken und wenn es nicht schmeckt, dann gibt es trotzdem kein anderes.“ An Bord – das ist das Schulsegelschiff Thor Heyerdahl, ein Dreimast-Toppsegelschoner, auf dem seit zehn Jahren das Projekt „Klassenzimmer unter Segeln“ stattfindet. 34 Zehntklässler aus ganz Deutschland segeln sechs Monate um die halbe Welt und werden dabei auf dem Schiff unterrichtet. Alle Arbeiten und Dienste, ob Segel setzen, Nachtwache, putzen, kochen oder Brot backen, was im Marine-Sprech Backschaft heißt, werden von den Schülern selbst übernommen. Die nächste Reise beginnt Mitte Oktober und auch zwei Potsdamer sind dabei: Jeremias Gestrich und Jasper von Lewinski.

Bis vor wenigen Tagen besuchten die beiden 15-Jährigen noch eine zehnte Klasse am Humboldtgymnasium. Mit Freunden und Mitschülern haben sie gerade eine große Abschiedsparty gefeiert. Für sechs Monate wird ihre Klasse und ihre komplette Lebenswelt eine andere sein. Sie sind dann Teil eines großen Teams, das den Dreimaster von Kiel einmal über den Atlantik und zurück steuert – ein großes Abenteuer, inklusive Grenzerfahrungen, spätestens im ersten Herbststurm auf der Nordsee, so die Erwartung der künftigen Segler.

Das Projekt begann als Forschung im Fachgebiet Erlebnispädagogik der Universität Erlangen–Nürnberg. Unter den 14 erwachsenen Begleitern sind speziell ausgebildete Lehrer. Die Teenager sollen während dieser Reise lernen, selbstständig und verantwortungsvoll zu handeln und Teil eines Teams werden, so die Initiatoren. „Zum Segel Setzen oder Bergen braucht man zehn Mann, das kann kein Einzelner“, sagt Mitinitiatorin Claudia Kugelmann.

Fremde Kulturen und Regionen kennenlernen

Neben der seemännischen Ausbildung wird wissenschaftlich gearbeitet, Fächer wie Biologie und Physik werden dabei vor allem anhand praktischer Erfahrungen unterrichtet. Während mehrerer Landaufenthalte lernen die Schüler fremde Kulturen und Regionen kennen. Auf Teneriffa gehen sie auf Trekkingtour, auf den Antillen wird beim Tauchen das Ökosystem eines Riffs erkundet und in Panama der tropische Regenwald. Dort werden sie eine Woche bei Einheimischen wohnen und ihr Spanisch vertiefen. Im Februar geht es mit dem Fahrrad durch Kuba und im März zum Wale Beobachten an den Azoren. Zwei Wochen werden die Schüler zudem komplett alleine das Schiff übernehmen, das Navigieren und Steuern geschieht dann eigenverantwortlich.

Auch deshalb gelte es vor allem, an Bord miteinander zurecht zu kommen: mit den anderen und sich selbst. Weglaufen geht nicht, sagen sie, auch nicht, wenn Schwierigkeiten auftauchen. „Ich bin neugierig, wie es einem so gehen wird unter Stress“, sagt Jasper. „Das wird eine tolle Lebenserfahrung“, sagt Jeremias. „Wir werden hinterher mit Problemen bestimmt entspannter umgehen.“

Ohne Segelerfahrung unterwegs

Beide sind seit Jahren befreundet und wurden unabhängig voneinander auf das Projekt aufmerksam. Sie waren schnell begeistert und konnten auch ihre Eltern mitreißen. Nicht ganz unwichtig, schließlich kostet ein Monat auf dem Schiff 3000 Euro – für jeden. Dass das viel Geld ist, sei ihnen bewusst, sagt Jasper. Ihre Eltern wollten ihnen das trotzdem ermöglichen. Sie selber haben auch einiges gespart und in den Ferien gejobbt. Für Familien, die die Kosten nicht tragen können, gibt es Stipendien, so Jasper. Segelerfahrung hat keiner von ihnen. Das war auch keine Voraussetzung. Die Bewerbungen mussten Motivationsschreiben und möglichst gute Zeugnisse enthalten, denn wer mitsegeln will, soll nach dem Abenteuer-Schuljahr sicher die regulären 10. Klasse-Prüfungen schaffen.

Im April kam schließlich die Einladung zum einwöchigen Probesegeln. Jeweils zehn Kandidaten schipperten in einem kleinen Segelboot auf der Schlei. „Wir mussten alles selber organisieren, Lebensmittel einkaufen, kochen, Teamwork probieren“, sagt Jasper. Danach waren sie noch begeisterter und freuten sich riesig, als der dicke braune Umschlag mit der finalen Zulassung zu Hause eintrudelte.

Jetzt stecken sie in den letzten Vorbereitungen für ihre große Reise. Dabei geht es vor allem ums Weglassen: Das Gepäck ist auf Seesack und Rucksack beschränkt. Da hinein müssen auch Schlafsack, Hängematte und Isomatte, Moskitonetz, Taucherflossen und natürlich Segelsachen für jedes Wetter. Es wird heiß bis richtig kalt, spätestens auf der Rückfahrt. Jeden Tag umziehen geht nicht, Wäsche waschen einmal in der Woche, Duschen nur alle drei Tage. Das ist dann eben so, sagt Jasper pragmatisch, die Wasseraufbereitungsanlage des Schiffs schafft nur eine bestimmte Menge.

Zur Vorbereitung gehörten auch Impfungen gegen Tropenkrankheiten. Vor Sturm und anderem Unbill haben sie keine Angst, sagen die Jungs. Respekt vor dem Meer haben sie aber durchaus. Sicherheit geht natürlich immer vor. „Wer in die Rigg klettert, ist mit Leinen gesichert“, so Jeremias, die Masten seien bis zu 30 Meter hoch. „Wenn das Boot sich stark neigt, hängt man dann auch mal paar Meter seitlich überm Wasser.“ Bei Sturm werde man sogar an Deck angebunden.

Was wird ihnen fehlen? „Familie und Freunde. Und vermutlich der Komfort, sich jederzeit eine Pizza in den Ofen schieben zu können“, sagt Jeremias. „Mein Bett“, sagt Jasper. 60 Zentimeter sind die Kojen breit, nicht gerade viel. Aufs Handy können sie beide gut verzichten, sagen sie. Die Telefone werden zu Beginn der Reise eingesammelt. Es gebe ohnehin keinen Empfang unterwegs, nur von Land aus können sie telefonieren.

Vom Schiff in den Wald

Damit ihnen im Mai 2020 der Übergang vom Schiff zurück in den Alltag gelingt, gibt es kurz vor der Ankunft noch einen besonderen Aufenthalt in Südengland. Dort wird jeder Teilnehmer 24 Stunden allein im Wald verbringen, um sich zu sammeln, die vergangenen Monate und die Erfahrungen zu reflektieren.

Wenn sie jetzt am 19. Oktober nach drei Tagen Werftzeit in Kiel auslaufen, werden ihre Eltern beim Abschied dabei sein. Die Mütter seien etwas besorgter als die Väter, sagen beide. Freunde und Mitschüler wünschen ihnen viel Spaß und gönnen ihnen das Abenteuer. „Viele denken, das ist Urlaub, aber das stimmt nicht“, sagt Jasper. „Das wird eine ernsthafte Herausforderung“.

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