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Heimstatt in einem Waldstück in Bornim. Der Obdachlose selbst stellt sich als „Mr. Reynolds“ vor und hat Freude an absurden Späßen mit Journalisten. In einer Nacht Anfang November schlugen Unbekannte ihn zusammen.

© Carsten Holm

Potsdamer ohne Zuhause: Verlieren können sie nur noch das Leben

400 Potsdamer gelten als wohnungslos, 50 Menschen leben nach Schätzungen dauerhaft auf der Straße. Was bestimmt ihren Alltag? Was wünschen sie sich? Hier erzählen sie ihre Geschichten.

Potsdam - Die Dämmerung hat eingesetzt am Rande eines Waldstücks an der Potsdamer Straße in Bornim. Schräg gegenüber des Lidl-Markts, allenfalls 25 Meter von der B273 entfernt, steht zwischen fast blätterlosen Bäumen ein kleines, heruntergekommenes blaues Zelt. Es ist die Heimstatt eines Obdachlosen.

Schwach scheint das Licht einer Gaslampe durch die Zeltwand, es ist nasskalt und nieselt. Als der Mann, der dort haust, Geräusche hört, tritt er hinaus ins Freie. Er wirkt einen Moment lang verängstigt, dann stellt er sich in feinstem Oxford-Englisch als „Mr. Reynolds“ vor.

Er hat einen zotteligen, dunklen Bart und trägt einen abgewetzten Parka. Nein, er friere nicht, sagt er. Mr. Reynolds ist einer der bekanntesten Obdachlosen der Stadt, manche nennen ihn den „Holländer“. Seit ein paar Jahren lebt er hier, lange Zeit waren die Bushaltestelle am Bassinplatz, die Umgebung des Hauptbahnhofs oder die Havelbrücken sein Zuhause. Dort schlief er, dort schnorrte er.

Sozialarbeitern ist bekannt, dass Mr. Reynolds sich nicht helfen lässt, und auf keinen Fall ins Obdachlosenheim ziehen will. Trotzdem schauen sie regelmäßig nach ihm und brechen auf, wenn Bornimer Bürger die Stadt oder die Polizei darüber informieren, dass sie ihn zwei, drei Tage nicht an seinem Zelt gesehen haben.

Absurdes Theater

Mit schneidender Stimme markiert Mr. Reynolds nun sein Revier. „Zeig’ deinen Ausweis“, herrscht er den Besucher auf Englisch an. Prüfend mustert er das Dokument, dann schüttelt er den Kopf: „Alles gefälschte Nummern. Du bist ja gar nicht registriert. Dich gibt es also gar nicht.“ Den Einwand, der Besitzer des Ausweises stehe doch vor ihm, lässt er nicht gelten.

Mr. Reynolds scheint eine große Freude an absurdem Theater zu haben. Entrückt, wenn nicht verrückt wirkt er, als er in schnellem Tempo einen Kübel zusammenhangloser Sätze leerplappert. Er sei ein bekannter Wissenschaftler, 1667 in Stuttgart geboren. Spiele alles aber überhaupt keine Rolle: „Es gibt keine Zeit. Es gibt nur Sonne und Wind.“

Brutal zusammengeschlagen

Er redet wirr, bis die Rede auf die Nacht vom 2. zum 3. November kommt. Völlig klar beschreibt er, was passierte, nachdem er sich schlafen gelegt hatte. Sein Gesicht versteinert sich, der Schock sitzt noch immer tief in ihm. Drei Männer seien zu seinem Zelt gekommen, zwei hätten ohne erkennbaren Grund auf ihn eingeschlagen, der dritte habe Schmiere gestanden. Sie hätten kein Geld gewollt, sie wollten ihn nur verprügeln. Als die Täter in der Dunkelheit verschwunden waren, machte sich Mr. Reynolds auf den Weg zur nahen Jet-Tankstelle.

„Der Geschädigte kam in die Tankstelle in der Potsdamer Straße und blutete nach Angaben des anrufenden Tankstellenmitarbeiters unter dem Auge“, heißt es im Einsatzprotokoll der Polizei. Er ließ sich von Rettungssanitätern behandeln, in ein Krankenhaus wollte er nicht. Die Täter wurden nicht gefasst. Das Opfer versteht das alles nicht. „Ich will doch von niemandem was“, sagt er, „das einzige, was mir fehlt, ist ein gutes Zelt.“

Mr. Reynolds ist kein Einzelfall. Die Zahl der angezeigten Straftaten gegen Obdachlose in Deutschland ist in den vergangenen Jahren deutlich gestiegen. 2018 hat die Bundesregierung die Zahlen auf eine Anfrage der Linken-Fraktion offengelegt: 2011, als diese Taten erstmals separat erfasst wurden, gab es 602 dieser Delikte, 2017 bereits 1389 – mehr als doppelt so viele. Unter den Tätern sind nicht selten Rechtsextreme. In der Tradition der Nazi-Ideologie sind Wohnungslose für sie „unwertes Leben“. Im Fall des Waldmenschen von Bornim ist der Hintergrund allerdings unklar. Es ist die erste Straftat dieser Art in Potsdam.

Genaue Zahl unbekannt

Niemand kennt die Zahl der Wohnungslosen in der Landeshauptstadt, sie wird allenfalls geschätzt. Über das gesamte Jahr 2018 hinweg soll es etwa 400 in der wohlhabenden Stadt gegeben haben, auf zusätzlich rund 50 Frauen und Männer schätzt Gregor Jekel, im Rathaus Fachbereichsleiter Wohnen, Arbeit und Integration, die Zahl derer, die auf der Straße leben.

Die Arbeit für Wohnungslose benotet Werena Rosenke, Geschäftsführerin der in Berlin residierenden Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe, als vorbildlich: „Potsdam hat eine gute Infrastruktur aufgebaut, das ist kein Standard in Deutschland.“

Jekel erzählt, wie sich die Stadt müht, in Not geratene Potsdamer vor dem Absturz zu bewahren. Pro Jahr würden der Stadt rund 1000 Kündigungen, Räumungsklagen und Zwangsräumungen bekannt. Wohnungsunternehmen legten ihren Kündigungsschreiben Flyer mit Hinweisen auf Hilfen bei. Falls sich die Betroffenen an die Stadt wenden, prüfe sie, ob sie Miet- oder Energieschulden übernehmen könne, um einen Rauswurf zu vermeiden. Die Schuldner, so Jekel, müssten das Darlehen in Monatsraten zwischen 20 und 50 Euro zurückzahlen.

Es kommt nicht selten vor, dass Sozialarbeiter der Stadt ausrücken, um Gespräche mit den Betroffenen und den Vermietern zu führen. Immer mit dem Ziel, das Schlimmste, die Wohnungslosigkeit, zu verhindern. Geht eine Kündigungsklage beim Amtsgericht ein, „werden wir sofort informiert“, sagt Jekel.

Es gibt wohnungslose Potsdamer, die so klamm sind, dass sie nicht einmal genügend Geld für ein Passfoto aufbringen können, das sie für einen Ausweis brauchen. „Dafür ist im Haushalt ein Notfallfonds mit einem Budget von 500 Euro eingerichtet“, sagt Jekel, „wir sind keine Bank, aber wir können helfen.“

Alle Plätze belegt

Für viele Wohnungslose in höchster Not ist das Obdachlosenheim des Awo-Bezirksverbands Potsdam ein Refugium. Sie können sich über die Wohnungssicherung der Landeshauptstadt oder durch die Polizei einweisen lassen und sich sogar selbst dort melden; die Awo arbeitet im Auftrag der Stadt. Der Wohnkomplex am Lerchensteig 55 in Bornim bietet 95 Menschen Platz, für Frauen und Männer zwischen 18 und 30 Jahren wurde eigens der Bereich „Junge Wilde“ mit 24 Plätzen geschaffen. Es gibt zudem ein Familienhaus mit 45 Plätzen, im Moment sind sie alle belegt.

Obdachlose, die nach Gründen suchen, nicht in ein solches Heim ziehen zu wollen, sprechen oft von der Angst, dort von anderen beklaut zu werden. „Das bekommt man nicht aus der Welt“, sagt die Vorstandsvorsitzende des Awo-Kreisverbands Potsdam Angela Schweers. „Aber so etwas verbreiten Leute, die nicht wissen, dass wir Einzelzimmer haben und man sich höchstens in der Notaufnahme für drei bis fünf Tage ein Zimmer teilen muss.“

Wer lange auf Trebe war, wird den Komfort am Lerchensteig schätzen. Alle Einzelzimmer sind mit Bett, Tisch, Schrank und Stuhl sowie einem Kühlschrank ausgestattet. Es gibt Gemeinschaftsküchen und eine Cafeteria.

Zwischen einem und fünf Jahren bleiben die meisten im Obdachlosenheim. Sie verlassen es, sagt Schweers, „wenn sie wieder ein menschenwürdiges, selbstbestimmtes Leben führen können“. Die Aufenthaltsdauer werde länger. Neun von zehn Bewohnern seien Männer, „aber wenn es ein Frauen-Obdach geben würde, kämen mehr Frauen“. Immerhin hat die Awo am Lerchensteig eine Frauenetage eingerichtet.

Obdachlosenheim der AWO am Lerchensteig 55.
Obdachlosenheim der AWO am Lerchensteig 55.

© Ottmar Winter

Awo-Mitarbeiter finden Lösungen

Vorstandschefin Schweers ist seit mehr als zwei Jahrzehnten bei der Awo, kaum jemand kennt die Lage der Obdachlosen in Potsdam so wie sie. Und auch die Gründe, die zur Wohnungslosigkeit führen: Streit mit Angehörigen, Räumungsklagen wegen Mietschulden, Therapieabbrüche. Oft sind die Beziehungen zur Familie, zu Partnern, Freunden und Nachbarn zerstört – und die persönlichen Katastrophen werden durch den Missbrauch von Suchtmitteln oder psychiatrischen Verhaltensauffälligkeiten verstärkt.

Der Einzug ins Obdachlosenheim ist für viele Wohnungslose der erste Schritt zu einem Neubeginn. Für die Sozialarbeiter sind die immensen Schwierigkeiten, die sich manche aufgeladen haben, Routine. Sie wissen, dass manch einer nach dem Verlust der eigenen Wohnung zwei, andere sogar fünf Jahre bei Freunden Unterschlupf gefunden haben, sie sprechen in solchen Fällen von „verdeckter Obdachlosigkeit“. Sie wissen auch, wie hoch der Schuldenberg ist, der sich über einigen türmt. „Briefe mit Rechnungen und Mahnungen werden irgendwann nicht mehr geöffnet“, sagt Schweers.

Leben Frauen und Männer im Obdachlosenheim, haben sie, mitunter nach Jahren, wieder eine Meldeadresse. „Hier stapelt sich dann alles“, sagt Awo-Sozialarbeiter David Weidling. Im Heim tritt alles zu Tage: Geschäftsführerin Schweers kennt die Fälle von Obdachlosen, die schon nach einem Jahr allein bei der Krankenversicherung einschließlich Strafzinsen mit 15.000 Euro in der Kreide stehen. Hinzu kommen Mietschulden und Strafbefehle wegen Schwarzfahrens – in der Summe weit mehr, als Hartz-IV-Empfänger jemals abstottern können.

Der Potsdamer „Edeka-Punk“ an seinem Arbeitsplatz. Den Mann, der sich „Fischi“ nennt, beeindruckt es kaum, wenn ihm Passanten deutlich machen, dass er ihnen mit seiner offensiven Marketingstrategie auf die Nerven geht. Stolz erzählt er von 934 Abonnenten, die er auf Instagram hat, augenzwinkernd erklärt er vor dem Supermarkt in der Brandenburger Straße sein „Spendenbüro“ für „geöffnet“.
Der Potsdamer „Edeka-Punk“ an seinem Arbeitsplatz. Den Mann, der sich „Fischi“ nennt, beeindruckt es kaum, wenn ihm Passanten deutlich machen, dass er ihnen mit seiner offensiven Marketingstrategie auf die Nerven geht. Stolz erzählt er von 934 Abonnenten, die er auf Instagram hat, augenzwinkernd erklärt er vor dem Supermarkt in der Brandenburger Straße sein „Spendenbüro“ für „geöffnet“.

© Carsten Holm

Die Awo-Mitarbeiter finden Lösungen für Probleme, die Einzelne überfordern. Sie haben beste Kontakte zur Schuldner- wie zur Suchtberatung, sie bauen geduldig Vertrauen zu ihren Bewohnern auf und weisen Wege, deren Leben neu zu ordnen. Und sie organisieren Hilfe bei psychischen Erkrankungen. „Kein Problem ist unlösbar. Es geht alles“, sagt Schweers, „wir sind ein helfendes System, das ohne Sanktionen funktioniert.“

Nur: Sind die Bewohner des Obdachlosenheims in der Lage, wieder selbstständig zu wohnen, gibt es eine weitere große Hürde in der Stadt: „Wir haben in Potsdam viel zu wenig bezahlbaren Wohnraum“, sagt Schweers.

Die Vorstandsvorsitzende hielt es schon immer für ein Manko, dass die Zahl der Wohnungslosen in Deutschland nicht erfasst wird. „Von daher existieren sie einfach nicht“, sagt Schweers. Es sei ein „wichtiger Schritt“, dass die Bundesregierung am 3. Dezember einen Gesetzentwurf zur Einführung einer Wohnungslosenberichterstattung und für eine Statistik untergebrachter wohnungsloser Personen in den Bundestag eingebracht habe.

In Berlin wurde die Zahl der Obdachlosen auf 6000 bis 10.000 geschätzt. Immerhin: Ab Ende Januar sollen sie gezählt werden. „Einen solchen Schritt hätten wir uns auch für Potsdam gewünscht“, sagt Schweers.

Einfach überleben

Von der unbekümmerten Lebenslust der Potsdamer, die in der Vorweihnachtszeit an den Glühweinständen der Weihnachtsmärkte stehen oder Geschenke kaufen, sind die Armen der Stadt ausgeschlossen. Ihr Lebensziel beschränkt sich, Tag für Tag, allein auf die Befriedigung elementarer Bedürfnisse: Nicht frieren, nicht hungern, einfach überleben. Sie freuen sich, wenn die Mitarbeiter der Creativen Sozialarbeit (Creso) sie aufsuchen, mit ihnen sprechen, ihnen Schlafsäcke bringen und sie mit kleinen Care-Paketen versorgen.

Wenn es dunkel wird, sehen sich diejenigen, die kein Bett haben, nach Schlafplätzen um. Der Vorraum der Sparkasse in Babelsberg, in dem es neben Geldautomat und Kontoauszugsdrucker Platz genug gibt, um sich auszustrecken, gehört zu den besseren – er ist geheizt. Mit der S-Bahn nach und um Berlin zu fahren, wird aus denselben Gründen als Alternative geschätzt. Aber wer kein Geld für ein Ticket hat, wird hinaus in die Kälte geworfen und sammelt im Wiederholungsfall Bußgeldbescheide.

"Edeka-Punk" mit "Spendenbüro"

Vor dem Edeka-Supermarkt in der Brandenburger Straße sitzt „Fischi“, der 26-Jährige nennt sich so, weil er „aus Rostock von der Küste“ kommt. Er gefällt sich in der Rolle des wilden, linken Punks, gewährt aber auch Einblick in die Welt seiner Sorgen als Obdachloser. Ein Karton steht vor ihm, er hat ihn mit seiner Tageslosung bemalt. „AfD=Nazi-Schweine“ steht da. Seine Sprüche aktualisiert er oft. Als das ganze Land den 30. Jahrestag des Mauerfalls feiert, steht da: „Hab’n Spendenbüro heute, super offen, wie die Grenze“.

Fischi erzählt gern und viel, zwischendurch nervt er Passanten, die er mit Fragen wie „Wo bleibt mein Bier?“ anbölkt. Aber er verhehlt nicht, dass es an diesem Tag schwierig wird, genug für ein Zimmer in einer Pension in Babelsberg zusammenzuschnorren, obwohl es nur 30 Euro pro Nacht kostet. „Wenn es gut läuft, krieg’ ich am Tag 30 bis 50 Euro zusammen, wenn es scheiße läuft, zehn bis 20“, sagt er.

Seit Monaten auf der Durchreise. Der obdachlose Leipziger Horst Jade hat Träume: Im neuen Jahr will er erstmals das Mittelmeer sehen und dann eine Ausbildung beginnen
Seit Monaten auf der Durchreise. Der obdachlose Leipziger Horst Jade hat Träume: Im neuen Jahr will er erstmals das Mittelmeer sehen und dann eine Ausbildung beginnen

© Carsten Holm

Und wenn es nicht klappt an diesem Tag? Wenn zu wenig Geld in seinem Becher landet? In der Nacht zuvor sind die Temperaturen unter Null gefallen, Fischi erzählt, er habe auch da nicht genug für ein Zimmer geschnorrt und sich zum Schlafen auf eine Wiese nahe der Langen Brücke gelegt. Klar könne man durch Unterkühlung sterben. „Ich aber nicht!“, tönt er. Dann greift Fischi neben sich und zieht eine Flasche Jonny Walker hervor: „Die ganze Flasche und du frierst nicht.“

Mitarbeiter des Arbeiter-Samariter-Bunds helfen anders gegen die Kälte. Sie haben jüngst Schlafsäcke, Thermounterwäsche und sogar Zelte für Wohnungslose in Potsdam verteilt. Fischi wird von Passanten individuell unterstützt. Ein Potsdamer hat ihm Springerstiefel vorbeigebracht, eine Frau gab ihm eine russische Fellmütze.

Viele Geschichten, aber alle wahr?

Sein Instagram-Account namens edeka_punk habe er selbst eingerichtet, sagt Fischi. 934 Abonnenten hat er dort. Einer fragt ihn: „Merkst du nicht, dass du alle nervst?“ Worauf Fischis treuer Follower „Yves von wüstenwurm“ antwortet: „Ich hoffe für euch das ihr nie in eine Notsituation kommt, ich hoffe für euch das ihr beruhigt in ,eurer heilen Scheinwelt’ weiter leben könnt und nicht aufwacht und in der Realität ankommt.“

Fischi packt aus. Seit fünf Jahren sei er in Potsdam. Ausbildung als Restaurant-Fachkraft nach sechs Monaten „wegen Zoff mit dem Chef“ abgebrochen. Ein paar Monate Knast dieses Jahr, Anfang August Haftentlassung. Er saß ein, weil er in einem halben Jahr 30 Mal ohne Fahrkarte erwischt worden war und die Bußgelder von insgesamt 1450 Euro nur zum Teil zahlen konnte. Gibt es Belege dafür, die Ladung zum Haftantritt etwa? „Zerreiß’ ich alles“, sagt er.

Und warum ein Jahr Hausverbot im Edeka-Markt? Er habe eine Kassiererin als „fette Kuh“ bezeichnet, weil die sich in seinem Beisein einer Kundin gegenüber höchst unfreundlich verhalten habe, sagt Fischi. Der Edeka-Marktleiter will sich dazu nicht äußern: „Datenschutz.“

Wer Fischi zuhört, fragt sich, ob das alles stimmen kann, was er so erzählt. „Wer nichts mehr zu verlieren hat, lügt nicht“, weiß Awo-Chefin Schweers. Sie scheint damit richtig zu liegen – und dennoch klingt die Geschichte, die Fischi in der Fußgängerzone dann laut und mit stolzgeschwellter Brust zum Besten gibt, recht unwahrscheinlich. Eine Potsdamer Politikerin von der Satire-Partei „Die Partei“, Sylvia hieß sie angeblich, habe bei ihm ein Praktikum absolviert und gesagt: „Leute mit solchen Sprüchen wie dich brauchen wir.“ Er solle mal vorbeikommen bei „Die Partei“ und mitmachen.

Merkwürdige Story: Steigt der Edeka-Punk zum Politiker auf? Fakten-Check: Es gibt eine Sylvia Swierkowski, sie hat bei der jüngsten Kommunalwahl für die Wählergruppe kandidiert. „Das stimmt alles“, sagt sie, „ich habe im September auf seiner Arbeitsstätte vor Edeka neben ihm gesessen und hospitiert.“ Und sie habe ihn zum Stammtisch eingeladen. „Wichtig wie Geld sind für Fischi Gespräche“, sagt sie. Sie befürchte allerdings, dass Fischi nicht kommen werde, „weil er sich aus seinem Wohlfühlkreis herausbewegen müsste“.

Wo er zu Weihnachten ist? „Irgendwas mit Kumpels“, sagt Fischi.

Schnorren lehnt er ab

Zu den Obdachlosen, die sich vor dem Edeka-Markt treffen, gehört auch der 26 Jahre alte Horst Jade, er schleppt sein Hab und Gut in einem Rucksack mit sich. Fachabitur in Leipzig, Lehre als Landschaftsbauer abgebrochen. Job in einer Zeitarbeitsfirma, Vertrag über 30 Wochenstunden, 50 Stunden malochen. Er kündigte, als Hunderte Überstunden nicht bezahlt wurden. Seit drei Jahren obdachlos, nachdem ihn seine Freundin aus ihrer Wohnung schmiss. Ein halbes Jahr in einem großen Wald in Sachsen-Anhalt, zwei Reisen nach Frankreich, seit zweieinhalb Monaten in Potsdam. Schnorren lehnt er grundsätzlich ab. „424 Euro Hartz IV, das reicht mir“, sagt Jade. Er hat eine Meldeadresse und bekommt das Geld problemlos.

Endlich eine Wohnung. Mike Krischker (l.) lässt sich bei der Volkssolidarität von Suppenküchenchef Peter Müller für zwei Euro Bratwurst mit Lauchgemüse und Kartoffeln servieren.
Endlich eine Wohnung. Mike Krischker (l.) lässt sich bei der Volkssolidarität von Suppenküchenchef Peter Müller für zwei Euro Bratwurst mit Lauchgemüse und Kartoffeln servieren.

© Carsten Holm

Er unterscheidet sich von den meisten Obdachlosen: Er hat Träume, die er verwirklichen möchte. Horst Jade sucht eine Wohnung und will eine neue Lehre anfangen. Aber erst noch ein drittes Mal nach Frankreich: „Ich war noch nie am Mittelmeer.“

Gerade in der kalten Jahreszeit zieht es Obdachlose an Orte mit guter Heizung. Die Passagen am Hauptbahnhof bieten sich dafür an, zumal das Management versucht, eine Balance zwischen einem angenehmen Erscheinungsbild des Bahnhofs und den Nöten der Obdachlosen zu halten. Im Sommer werden die Bahnhofspassagen nachts für zwei, drei Stunden geschlossen. „Seit Jahren lassen wir die Türen auf, wenn es kalt wird“, sagt Center-Managerin Jana Strohbach, „wer sich an die Hausordnung hält, darf sich bei uns aufhalten.“ Der Wachschutz ahndet Verstöße wie Betteln, Alkoholkonsum und Übernachtung mit Platzverweisen.

Weit über Potsdam hinaus hat sich herumgesprochen, dass die Volkssolidarität mit ihrer Suppenküche dafür sorgt, dass niemand verhungern muss.

Morgens um 9 Uhr gibt es ein kostenloses Frühstück, an diesem Tag kommen 25 Leute in den Flachbau auf der Rückseite des Rathauses. Auch 13 Rumänen erfreuen sich an den Brötchen, die der Potsdamer Bäcker Schröter seit vielen Jahren spendet. Hier können sie für einen Euro duschen, ehe sie von denen, die im Hintergrund die Fäden ziehen, abgeholt und zu ihren Betteleinsätzen im Zentrum gebracht werden. Die Rumänen, sagt Peter Müller, Leiter der Suppenküche, „sacken oft Klamotten aus unser Kleiderkammer ein, um sie nach Hause zu schicken.“ Müller lächelt listig, als er hinzufügt: „Aber wir kennen unsere Experten inzwischen.“

Zu Mittag gibt es jetzt für zwei Euro Bratwurst, Kartoffelpüree und Lauchgemüse. „Wem es hier nicht schmeckt, dem ist nicht zu helfen“, sagt Mike Krischker. Der 57 Jahre alte Mann ist gelernter Fleischer, er arbeitete jahrelang bei der Bahn, seit 2003 ist er Langzeitarbeitsloser. Er war obdachlos und hat seit ein paar Monaten wieder eine eigene Wohnung. Es war auch für ihn ein Neustart. Stolz kritzelt er an einem Tisch in der Suppenküche den Grundriss seiner Wohnung in einem Hochhaus gegenüber der Halbinsel Hermannswerder auf ein Stück Papier: „Sieh’ mal, aus diesem Fenster guck ich runter auf die Havel, aus dem da auf Hermannswerder.“

Betteln im Potsdamer Zentrum. „Wald“, antwortet diese Rumänin auf die Frage, wo sie in der Stadt übernachtet.
Betteln im Potsdamer Zentrum. „Wald“, antwortet diese Rumänin auf die Frage, wo sie in der Stadt übernachtet.

© Carsten Holm

Es ist ein klarer, frostiger Dezembermorgen am nächsten Tag, ein paar Sonnenstrahlen tauchen die Kreuzung der Friedrich-Ebert- mit der Brandenburger Straße in ein warmes Licht. Auf einem kleinen Hocker hat eine Frau mit windgegerbtem Gesicht Platz genommen und bettelt. Sie könnte 45 oder 60 Jahre alt sein, sie trägt drei Lagen Pullover und Jacken. Hinter ihr steht ein kleiner Rollkoffer mit ihrer Habe. Nähren sich Passanten, hebt sie den weißen Plastikbecher neben sich hoch und murmelt etwas.

Es vergeht eine Viertelstunde, bis sich jemand erbarmt und ihr etwas Münzgeld in den Becher legt. Die Frau versteht allenfalls ein paar Brocken Deutsch. Auf die Frage „Romania?“ nickt sie zustimmend, auf die Frage „Potsdam, Hotel, Pension?“ schüttelt sie den Kopf.

„Wald“, sagt sie. Wo, weiß sie nicht.

Carsten Holm

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