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Der Jesus vom Alten Markt. Drei Meter hoch ist der Jesus im Zentrum des rekonstruierten Figurenreliefs.

© Martin Müller

Potsdamer Mitte: Das Jesus-Rätsel

Die Nikolaikirche erhält mehr als 70 Jahre nach der Zerstörung ihr Tympanon-Relief mit überlebensgroßem Jesus zurück. Die Arbeiten waren kompliziert.

Es riecht nach Farbe hier oben. Auf dem Baugerüst am Portal der Nikolaikirche kommt man Jesus ganz nah. Drei Meter hoch und 20 Meter breit ist die Figurengruppe, die dort in 15 Metern Höhe seit Juli angebracht wurde. Jesus steht in der Mitte, die Arme ausgebreitet, die Hände nach außen gewandt, einen vergoldeten Heiligenschein hinter dem Kopf. Um ihn herum stehen, sitzen und lagern 18 weitere Figuren: Männer, Frauen, Kinder. Sie hören dem Mann in der Mitte zu – gespannt, nachdenklich, andächtig, mit geschlossenen Augen, mit Papier und Stift, skeptisch oder gelangweilt. In dieser Woche soll das Gerüst abgebaut werden. Dann wird das Relief im Tympanon – so lautet der Fachbegriff für das Giebeldreieck über dem Portal – mehr als 70 Jahre nach der Zerstörung im Zweiten Weltkrieg erstmals wieder zu sehen sein.

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Mehr als 500.000 Euro kostete die Rekonstruktion

Noch glänzen die Figuren, die Ölfarbe ist frisch. „Mit der Zeit wird das trüb“, erklärt Andreas Kitschke. Der Potsdamer Kirchenexperte hat als Mitarbeiter des Architekturbüros Bernd Redlich die Arbeiten für die Rückkehr des Reliefs in luftige Höhe über den Alten Markt geleitet. Geschaffen wurden die Figuren von Rudolf Böhm. Der Potsdamer Künstler hat als Restaurator fast 40 Jahre lang die Skulpturenwerkstatt der Schlösserstiftung geleitet. Er ist auch in der Stadt präsent – mit etlichen eigenen Bildwerken, aber auch Rekonstruktionen von verloren Gegangenem: Da ist der Obelisk auf dem Alten Markt, für den er bereits Ende der 1970er-Jahre arbeitete, die Fortuna am Landtagsschloss, die Caritas auf dem Militärwaisenhaus. Der Auftrag für die Nikolaikirche sei für ihn noch einmal ein Höhepunkt, hatte der 77-Jährige den PNN im Frühjahr gesagt.

Der Potsdamer Künstler Rudolf Böhm rekonstruierte das Tympanon-Relief.
Der Potsdamer Künstler Rudolf Böhm rekonstruierte das Tympanon-Relief.

© Ronny Budweth

Ein Anlass zum Feiern ist das neue Relief auch für die Nikolaikirchengemeinde. Eine ganze Festwoche ist geplant, beginnend am 7. Oktober. Neben Gottesdiensten wird unter anderem ein Bildband mit Fotos vorgestellt, die während der Arbeit in Böhms Werkstatt am Aradosee entstanden sind.

Die Figuren sind aus "Potsdamer Stuck" - eine Spezialmischung

Mehr als 500 000 Euro hat die Rekonstruktion gekostet, möglich wurde sie dank einer Großspende der Stiftung Preußisches Kulturerbe und Privatspenden, sagt Nikolaipfarrerin Susanne Weichenhan. Mehrere Jahre haben die Vorbereitung und die Arbeiten gedauert. Rudolf Böhm konnte dabei mit seinem Kollegen auf eine in den Jahrzehnten bei der Schlösserstiftung entwickelte und bewährte Technik zurückgreifen. Zunächst wurden die Figuren in Ton modelliert, dann wurden davon Silikonformen abgeformt, mit denen wiederum die Skulpturen aus Stuck gegossen werden konnten.

Im Werden: Blick in die Werkstatt von Rudolf Böhm.
Im Werden: Blick in die Werkstatt von Rudolf Böhm.

© Repro: Ronny Budweth

Es handelt sich um den sogenannten „Potsdamer Stuck“, erklärt Andreas Kitschke. Eine Mischung aus Gips, Weißkalk, ortsüblichem Kies und Wasser, freihändig angemischt, die an vielen Potsdamer Gebäuden verwendet wurde. Die einzelnen Figuren wurden dabei in kleinere Teile aufgeteilt. Der Jesus zum Beispiel wurde in fünf Stücken gegossen – jedes zwischen 100 und 150 Kilogramm schwer, damit man sie überhaupt noch bewegen konnte. Erst an der Kirche sind die Teile dann verbunden worden.

Das Sandsteingesims wurde mit einem Stahlbetonbalken gesichert

Auch das Anbringen über dem Portal erwies sich als kompliziert, berichtet Andreas Kitschke. Denn das Giebeldreieck war gar nicht tief genug für die Figuren. Bei der Rekonstruktion des im Krieg komplett zerstörten Portals zu DDR-Zeiten hatte man wohl nicht damit gerechnet, dass das Relief irgendwann zurückkehren könnte. Die Rückwand musste um zwölf Zentimeter zurückgesetzt werden. Dabei aber drohte das Sandsteingesims, Übergewicht zu bekommen – deshalb mussten die Sandsteinelemente neu verankert werden. Dafür wurde das Dach geöffnet und ein Stahlbetonbalken mit Edelstahlhaken montiert.

Die Zuhörer. Männer und Frauen verschiedener Berufs- und Altersgruppen sind vertreten.
Die Zuhörer. Männer und Frauen verschiedener Berufs- und Altersgruppen sind vertreten.

© Martin Müller

Sichtbar ist das für den Spaziergänger auf dem Alten Markt nicht. Aufmerksamen Potsdamern könnte indes auffallen, dass der Tympanon mit der Vertiefung auch ein drittes Fries bekommen hat – den sogenannten Herzblattstab.

Regelrecht leuchten wird die Figurengruppe, wenn das Gerüst abgebaut ist. Das ist durchaus gewollt: Die Farbe, mit der sie gestrichen ist, entspricht dem hellsten Ton in der Fassade der Kirche, der Hintergrund indes dem dunkelsten. Damit sich keine Tauben und andere Vögel einnisten können, wurde zudem ein Kunststoffnetz angebracht, das vom Alten Markt aus unsichtbar sein soll.

Aber wieso steht Jesus eigentlich?

Mit dem Original des Kunstwerks hat Bildhauer August Kiß seinerzeit auch ein Rätsel aufgegeben, sagt Nikolaipfarrerin Susanne Weichenhan. Eigentlich soll es die berühmte Bergpredigt aus der Bibel darstellen – in Korrespondenz zu den Zitaten, die darüber an der Kirche zu lesen sind. Wer die entsprechende Bibelstelle im Matthäus-Evangelium aber nachliest, dem fällt auf, dass sich Jesus für die Predigt hinsetzt – und eben nicht, wie in Potsdam, steht. „Das hat mir einige schlaflose Nächte bereitet“, sagt die Pfarrerin. Bis sie bei dem Historiker Hans Kania auf die Überlieferung stieß, dass Architekt Schinkel an der Kirche anfangs ein Zitat aus der sogenannten Feldpredigt aus dem Lukas-Evangelium plante. Der stehende Jesus ist davon wohl geblieben.

Die Zuhörer. Rund um Jesus scharen sich 17 Figuren.
Die Zuhörer. Rund um Jesus scharen sich 17 Figuren.

© Martin Müller

Die Frage um einen sitzenden oder stehenden Jesus eröffnet im 21. Jahrhundert einen überraschend aktuellen Interpretationsspielraum, sagt Pfarrerin Weichenhan: Denn stehend nehme Jesus die Haltung eines Propheten ein – und als solcher werde er auch bei den Muslimen anerkannt. Die Skulpturengruppe könne also auch Muslime zur Auseinandersetzung anregen – auch wenn das zu Schinkels Zeit sicher nicht so angelegt war, wie die Pfarrerin einräumt.

Die Bergpredigt gelte als „Kernbotschaft des Christentums“, erklärt Susanne Weichenhan. In ihr findet sich etwa der Gedanke der Feindesliebe oder die sogenannte Goldene Regel, die besagt, dass man andere Menschen so behandeln soll, wie man selbst behandelt werden will. „Die Botschaft der Bergpredigt ist eine, mit der man sich über die Jahrtausende immer wieder auseinandersetzen kann“, sagt die Nikolaipfarrerin. Dass diese nun wieder über den Potsdamer Alten Markt strahlen wird, erfülle sie „mit großer Freude“.

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Aus dem Programm der Festwoche:

Eröffnet wird die Festwoche am 7. Oktober um 10 Uhr mit einem Erntedank-Festgottesdienst von Generalsuperintendentin Heilgard Asmus. 12.15 Uhr gibt es Erläuterungen zum Relief auf dem Alten Markt.

Am 8. Oktober wird um 18.30 Uhr der Bildband zur Rekonstruktion vorgestellt.

Am 10. Oktober um 18.30 Uhr gibt der langjährige PNN-Kulturchef Klaus Büstrin bei einer Lesung Einblick in die Probleme, die die Zeitgenossen nach der Einweihung der Nikolaikirche 1837 mit dem Bau hatten.

Am 12. und 13. Oktober jeweils 20 Uhr finden in der Kirche die Jedermann-Festspiele statt.

Am 13. Oktober gibt es um 10.30 Uhr zudem eine Kirchenführung mit Pfarrerin Susanne Weichenhan.

Den Abschluss macht der Festgottesdienst zur Tympanon-Einweihung am 14. Oktober um 10 Uhr. 12.15 Uhr wird das Relief auf dem Alten Markt erläutert.

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