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Mit nur einem Tropfen Blut könnten Neugeborene auf die seltene Kinderdemenz NCL getestet werden.

© Stefan Sauer/dpa

Potsdamer an Kinderdemenz erkrankt: Dem Himmel zu nah

Der vierjährige Kulani war ein ganz normales Kind, bis Ärzte bei ihm die unheilbare Krankheit Kinderdemenz feststellten. Seine Eltern wissen nicht, wie lange er damit leben kann.

Der Sohn von Mario Villwock und seiner Frau heißt Kulani. „Das bedeutet auf Hawaiianisch: dem Himmel entsprechend“, sagt der Vater. Jetzt ist Kulani vier Jahre alt. Den Himmel kann er immer schlechter sehen, bald gar nicht mehr. Kulani erblindet langsam. Der Sehverlust ist allerdings nur ein Symptom von vielen, die zum sehr komplexen und extrem seltenen Krankheitsbild der sogenannten Kinderdemenz gehören. Diese Neuronale Ceroid-Lipofuszinose (NCL) ist eine Stoffwechselerkrankung, bei der langsam Gehirnzellen geschädigt werden und zu Erblindung, Demenz, motorischen Problemen und Epilepsie führen. Kulani wird nicht wieder gesund werden, und wie lange er noch leben wird, ist ungewiss. Die meisten NCL-Patienten versterben im Alter von 20 bis 30 Jahren.

Erst seit Juli wissen die Eltern, dass es sich um diese Krankheit handelt. Und obwohl ihr ganzer Alltag schon seit Monaten komplett durcheinander ist und sie neben der Betreuung ihres schwerstkranken Kindes immer weniger Zeit haben, möchten sie ihre Geschichte mitteilen. „Wir möchten die Erkrankung bekannter machen und wünschen uns einen offeneren Umgang mit diesem schwierigen Thema“, sagt der Vater.

Deshalb haben Villwocks Kontakt zur NCL-Stiftung aufgenommen. Die Stiftung sitzt in Hamburg, wie das Universitätsklinikum UKE – derzeit die einzige Klinik in Deutschland, die NCL-Patienten behandelt. Auch Familie Villwock ist nach einer Ärzte Odyssee durch verschiedene Kliniken – erst Potsdam, dann die Charité, dann Magdeburg – in Hamburg gelandet.

Die Kinder entwickeln sich anfangs ganz normal

Frank Stehr, Biochemiker und Molekularbiologe, der im Vorstand der Stiftung sitzt, überrascht das nicht. Bei etwa 20 Neuerkrankungen im Jahr und geschätzt 700 diagnostizierten Fällen in Deutschland sei es sehr schwierig, das Krankheitsbild zu erkennen. Zudem entwickeln sich die Kinder in ihren ersten Lebensjahren völlig normal und die Symptome stellen sich erst schleichend ein.

Auch Kulani war ein völlig unauffälliges Kind, sagen die Eltern, bis er im Alter von drei Jahren einen ersten epileptischen Anfall erlitt und in der Notaufnahme im Potsdamer Klinikum landete. Mittlerweile ist die Krankheit fortgeschritten. Er ist zu 50 Prozent blind, dazu kommen mehr und mehr motorische und kognitive Schwierigkeiten. „Laufen, Essen und Sprechen fallen zunehmend schwerer. Er will sich oft mitteilen, kann aber nicht.“ Außerdem hat er immer wieder epileptische Anfälle, die in der Klinik behandelt werden müssen. „Es macht uns Angst nicht zu wissen, was noch alles auf uns zukommt“, sagt die Mutter.

Weil Kulani nicht mehr in die Kita gehen kann, muss er zu Hause betreut und beschäftigt werden. Die Eltern arbeiten beide nur noch Teilzeit, der eine vormittags, der andere nachmittags. Dafür erhalten sie Pflegegeld. Allerdings sei der Junge in eine zu niedrige Pflegestufe eingeordnet worden. Die Eltern kämpfen jetzt mit einem Anwalt um die Erhöhung des Pflegegrades sowie um eine Anerkennung der Krankheit als Schwerbehinderung von 100 Prozent. Sie ärgern sich auch, weil die Krankenkasse oft Hilfsmittel ablehnt, Kulani braucht einen Schutzhelm und eigentlich auch einen Pflegebuggy. Außerdem müssen sie dringend umziehen, ihre Wohnung ist nicht barrierefrei zu erreichen. Aber der Antrag auf einen Wohnberechtigungsschein liegt seit Wochen beim Amt. Das alles kostet Zeit und Kraft.

Dabei bräuchten sie vor allem Kraft für das Kind. Kulani hatte „Glück“, sagt der Vater, dass er an der am häufigsten auftretenden Variante von NCL erkrankte. Von etwa 13 bekannten Unterformen ist diese am besten erforscht und es gibt seit 2017 eine Behandlung, die den Krankheitsverlauf bremsen kann. Auch Kulani soll jetzt ab Oktober in Hamburg behandelt werden. Das wird bedeuten, dass die Familie alle zwei Wochen für einige Tage nach Hamburg muss.

Für die Behandlung wird ein Zugang zum Gehirn gelegt

Die Behandlung, eine Enzymersatztherapie, ist extrem aufwändig, sagt Frank Stehr. Unter höchst sterilen Bedingungen wird ein direkter Zugang ins Gehirn gelegt, ein feiner Kanal, der dann dauerhaft bleibt. Darüber wird das fehlende Enzym in die Hirnflüssigkeit gegeben. Ohne das Enzym würden die Nervenzellen von den Schadstoffen der normalen Energieproduktion nicht gereinigt werden und letztlich absterben. Durch die Therapie kann in 80 Prozent der Fälle die Zerstörung aufgehalten werden, so Stehr. Und je früher die Diagnose gestellt und mit der Behandlung begonnen wird, desto besser. Allerdings erreichen die Enzyme derzeit nicht die Netzhaut der Augen. Ein Sehverlust kann – bisher – nicht vermieden werden.

Neben der Enzymersatztherapie müssten deshalb auch gen-therapeutische Ansätze verfolgt werden, denn die Krankheit ist letztlich auf einen Gen-Defekt zurück zu führen. Nicht zuletzt könnte die Forschung zur Kinderdemenz auch der Entwicklung von Therapien der Altersdemenz zu Gute kommen, so Stehr. „Da gibt es interessante Schnittmengen.“

Die Stiftung sieht ihre Aufgabe deshalb vor allem in der Unterstützung der Forschung. Sie finanziert beispielsweise Doktorandenstipendien und organisiert internationale Nachwuchswissenschaftlertreffen. Sie lobt regelmäßig den NCL-Forschungspreis aus und betreibt Öffentlichkeitsarbeit, um die Krankheit bekannter zu machen. Sie fordert zudem, Neugeborene routinemäßig auf NCL zu testen. „Ein Blutstropfen genügt, es kostet vielleicht 15 oder 20 Euro“, so Stehr. Dann könnten die Kinder, die wie Kulani an der behandelbaren NCL-Form erkrankt sind, rechtzeitig eine Therapie beginnen.

Auch Villwocks wollen die Stiftung unterstützen und haben aus Hamburg zwei offizielle Spendendosen mitgebracht. Eine steht bei ihrem Optiker Stefan Scharnbeck in der Brandenburger Straße. Die zweite haben sie immer dabei, wenn sie mit ihrem Sohn unterwegs sind. Vielleicht, hofft Kulanis Mutter, sind die Menschen eher bereit zu spenden, wenn die Krankheit ein Gesicht bekommt.

www.ncl-stiftung.de

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