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Liudmyla Mashkova unterrichtet fünf Stunden täglich in einer Vorbereitungsklasse am Helmholtz-Gymnasium.

© Andreas Klaer

Nach der Flucht aus der Heimat: Ankommen im deutschen Schulsystem

Mehr als 300 ukrainische Kinder und Jugendliche lernen in Potsdam. Ein Besuch in zwei Schulen.

Potsdam - Hast du heute Morgen ein Ei gegessen? Bist du heute spazieren gegangen? Warst du gestern im Kino? Liudmyla Mashkova steht vor einer Gruppe von geflüchteten Schülern aus der Ukraine und dreht ein digitales Glücksrad. Auf der Leinwand in dem Klassenraum am Helmholtz-Gymnasium werden Fragen angezeigt. Fragen aus dem neuen Potsdamer Alltag der Jugendlichen, die sie nun auf Deutsch beantworten sollen.

Fünf Stunden täglich unterrichtet Mashkova die Vorbereitungsklasse mit knapp 20 Schülern im Alter zwischen zwölf und 17 Jahren. Sie sind einige der 318 ukrainischen Kinder und Jugendlichen, die seit Ausbruch des Krieges an Potsdams Schulen aufgenommen wurden. Rund die Hälfte besucht eine Grundschule, etwa 120 sind an Gymnasien und Gesamtschulen untergekommen. Das geht aus Zahlen des Landesbildungsministeriums hervor. 

Das Helmholtz- und das Einstein-Gymnasium gehören nach Angaben des Schulamtes zu jenen Schulen, die die meisten Schüler aufgenommen haben. Die Potsdamer Schulen organisieren die Aufnahme auf unterschiedliche Weise. Ein Drittel der Schüler wird in Vorbereitungsklassen beschult, jeweils ein weiteres Drittel in Regelklassen mit oder ohne Förderung. Einstein- und Helmholtz-Gymnasium haben beide Vorbereitungsklassen ins Leben gerufen. Unterrichtet werden die Schüler von Deutschlehrerinnen aus der Ukraine, die selbst vor dem russischen Angriffskrieg geflüchtet sind.

„Deutschland war immer mein Traumland“

Nina Bessonova kam im März, einen Monat nach Kriegsbeginn, mit ihren beiden Töchtern und dem Hund nach Potsdam. Seither leben sie bei einer Familie in der Landeshauptstadt, haben noch keine eigene Wohnung gefunden. „Die Menschen sind so hilfsbereit, ich bin sehr dankbar“, sagt sie. Seit einigen Wochen unterrichtet die Lehrerin ein knappes Dutzend Schüler aus der Ukraine am Einstein-Gymnasium. 

Lehrerin Nina Bessonova unterrichtet am Einstein-Gymnasium.
Lehrerin Nina Bessonova unterrichtet am Einstein-Gymnasium.

© Andreas Klaer

Täglich stehen für sie drei Stunden Deutsch auf dem Programm, in den Schulstunden danach gehen sie in die Regelklassen. „Deutschland war immer mein Traumland“, sagt Bessonova. Doch jetzt zieht es sie zurück. Mit dem Wissen um ihr Heimatland im Krieg kann sie hier keinen Frieden finden. Deshalb hat sie bis zu den ukrainischen Sommerferien auch ihre Schüler aus der Heimat weiter unterrichtet, digital.

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Bessonova stammt aus Mykolajiw, einer Großstadt am Schwarzen Meer. „Früher hatte die Stadt 500.000 Einwohner, jetzt sind nur noch 2000 da, alle anderen sind geflohen“, sagt sie. Von den 32 Schülern ihrer Klasse sind nur zwei in Mykolajiw geblieben, die anderen sind in den Westen gegangen, in andere Städte der Ukraine, nach Deutschland oder in die Schweiz. Nach den ukrainischen Ferien würde Bessonova sie gern wieder unterrichten. Jetzt aber steht sie in Potsdam vor der Gruppe geflüchteter Schüler, versucht, ihnen trotz unterschiedlicher Vorkenntnisse Deutsch beizubringen.

Glücksfall für das Einstein-Gymnasium

Christian Wienert, Schulleiter des Einstein-Gymnasiums, bezeichnet es als Glücksfall, Bessonova an der Schule zu haben. Kurz nach der Ankunft der ersten Geflüchteten habe das Landesbildungsministerium die Schulen gebeten, die Kinder in die Regelklassen zu integrieren. Nach den Osterferien kamen die ersten Schüler an, fast täglich kamen weitere Anfragen, berichtet Wienert. Einer konnte direkt in die gymnasiale Oberstufe aufgenommen werden, aber die meisten konnten wenig oder kein Deutsch. 

„Wenn wir die Schüler in einem gewissen Maß integrieren wollen, geht das nur mit Deutschkenntnissen“, sagt Wienert. Während bei den Schülern einige Hürden wie die Organisation der Schuleingangsuntersuchungen, Nachweise der Masernimpfung und Anmeldung genommen werden mussten, sei die Anstellung der ukrainischen Lehrerin unkompliziert verlaufen.

So berichtet es auch Liudmyla Mashkova. Die Lehrerin aus Kiew bekam über das Schulamt innerhalb kurzer Zeit eine Stelle am Helmholtz-Gymnasium, nach den Osterferien begann sie mit dem Unterricht. Den Kindern und Jugendlichen Deutsch beizubringen, erfüllt sie. „Wenn sie zurückgehen in die Ukraine, ist Deutsch ein Plus, wenn sie hierbleiben, ist es ein Muss“, sagt sie.

Denn ob die Schüler auf Dauer in Potsdam bleiben oder zurückkehren in ihre Herkunftsstädte, ist ungewiss und von Familie zu Familie unterschiedlich. Das zeigt sich auch im Gespräch mit den Schülern am Helmholtz-Gymnasium. „Ich mag Potsdam“, sagt die 14-jährige Daria aus Kiew. Sie fühle sich wohl an der Schule, auch wenn sie unter den Mitschülern noch keine deutschen Freunde gefunden hat. „Ich möchte hierbleiben und hier lernen“, sagt sie. Ksenia, ebenfalls aus Kiew, lobt Potsdam auch. „Aber meine Freunde fehlen mir sehr.“ 

Viele Geflüchtete wollen zurück in ihre Heimat

Derzeit lebt sie mit Mutter und Großmutter bei einer Potsdamer Familie, das Haus sei klein, die Verhältnisse seien beengt. Sie sehnt sich zurück nach der Ukraine. Eine 13-Jährige, auch sie heißt Daria, ist mit ihrer Sportgruppe nach Potsdam gekommen. Sie ist eine der Artistinnen, die nun im Zirkus Montelino trainieren. „Es läuft gut hier“, sagt sie. Aber in der Ukraine sind doch so viele der Dinge, die ihr wichtig sind: „Mein Vater, mein Haus, meine Freunde.“ Spätestens wenn der Krieg endet, wollen viele wieder nach Hause. Einige sind bereits zurückgekehrt.

Lehrerin Mashkova hat sich selbst ein Jahr in Potsdam gegeben. So lange möchte sie hierbleiben und Deutsch unterrichten – auch wenn das heißt, dass sie ihren Mann, ein Militär in der Ukraine, sehr lange nicht sieht. Von ihrem Lohn spendet sie einen Teil der Armee, einen Teil schickt sie ihren Eltern, die noch in der Ukraine leben.

Im Modell der Vorbereitungsklassen sieht die Schulleiterin des Helmholtz-Gymnasiums, Grit Steinbuch, mehrere Vorteile. Neben den schnellen Sprachfortschritten sei auch die gegenseitige Empathie unter Schülern, die vor dem Krieg geflüchtet sind, besonders stark. Sie wisse, dass Willkommensklassen umstritten seien. Dass manche in ihnen ein Hindernis zur Integration sehen, auch schon in der Flüchtlingswelle 2015 und 2016. „Aber ich finde das nicht verkehrt“, sagt Steinbuch. „Wir isolieren die Kinder nicht, wir versuchen, ihnen Angebote zu machen.“ Die Ukrainer können an Projekten teilnehmen, am Kunst- und Sportunterricht.

Auch Liudmyla Mashkova sieht ihre Aufgabe darin, die Schüler zu begleiten. „Ich muss auch verstehen, was sie erlebt haben“, sagt sie. Manche hätten Bomben gehört, lesen täglich die Nachrichten, halten Kontakt zu Verwandten und Bekannten. Eines Tages sei ein Mädchen sehr bedrückt zum Unterricht erschienen, erzählt Mashkova. Ihr Freund war bei einem Bombenangriff ums Leben gekommen. „Es ist gut, dass wir hier in dieser Gruppe zusammen sind, um unsere Erfahrungen auszutauschen und einander beizustehen.“

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