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Landtagswahl: Der große Tag der Jungwähler

In Potsdam können am Sonntag 6757 Erstwähler ihre Stimme bei der Landtagswahl abgeben. Unser Autor hat sich umgehört, was sie bewegt.

Am 4. Juni wurde der Potsdamer Karl Dietrich 16 Jahre alt und erreichte damit das Mindestalter zum Wählen. Am Sonntag ist ein großer Tag für ihn: Er zählt zu einer Handvoll Schüler der zehntens Klasse im evangelischen Gymnasium Hermannswerder, die alt genug sind, um zum ersten Mal bei der Landtagswahl ihre Stimmen abzugeben.

„Wer von uns alt genug ist, geht wählen“, sagt Dietrich, „muss man doch, wenn man was verändern will, oder?“ Der Schüler ist ein exemplarisches Beispiel für die vielerorts sichtbare Trendwende in der Jugendkultur: immer mehr junge Menschen gehen auf die Straße und demonstrieren für die Klimawende – so auch Dietrich. Die Zeit, in der Shopping, Handy und Playstation den größten Teil des Lebensinhalts der Jüngeren füllten, scheint offenbar zu verblassen.

In dieser Woche wohnte Dietrich im Zeltcamp der Potsdamer Gruppe von „Fridays for Future“ im Lustgarten, und wenn er dort, mit einem Stirnband in den dichten Haaren und ein paar Bändern an den Füßen, vor einer Jurte sitzt, spricht er im sonoren Timbre eines Polit-Profis: „Ich schwanke noch zwischen Linken und Grünen“, sagt er. Die Grünen müssten linker werden, die Linken grüner.

Regelmäßig nimmt der Klimaaktivist an den Demonstrationen von „Fridays for Future“ teil, er möchte dazu beitragen, „dass die Menschen, die meiner Generation folgen, eine halbwegs schöne Erde vorfinden.“ Der Schüler ist besser informiert als mancher Erwachsene, er sagt, er interessiere sich schon lange für Politik und versuche, abends keine Tagesschau zu versäumen. Außerdem sei Politik an seiner Schule ein großes Thema: in der Klassenlehrerstunde, in den Fächern Geografie und politische Bildung.

In Potsdam sind 6757 Erstwähler unter 137.634 Wahlberechtigten registriert, in Brandenburg können rund 120.000 der knapp 2,1 Millionen Wahlberechtigten erstmals an die Urnen gehen. Zu den Novizen gehört auch die 18-jährige Luisa Becker. Sie hat am Humboldt-Gymnasium Abitur gemacht, bald beginnt sie ihren Bundesfreiwilligendienst bei Amnesty International in Berlin. Natürlich gehe sie zur Wahl, sagt sie den PNN, schließlich werde auch in ihrer Familie „viel politisch diskutiert“. Luisa Becker will splitten: mit der Erststimme will sie die Grünen wählen, mit der Zweitstimme die Linke.

Mit ihrer gleichaltrigen Freundin Hannah Iffländer, ebenfalls Humboldt-Abiturientin, hat sie schon oft an Demos teilgenommen. Iffländer – die „was Soziales“ studieren möchte, zunächst jedoch mit einem Interrail-Ticket durch Europa reisen will – hat bereits per Briefwahl abgestimmt: Erststimme Linke, Zweitstimme Grüne. An ihrer Schule, erzählen beide, hätten sie keinen AfD-Sympathisanten identifiziert. Schon ein CDU-Anhänger und ein vermutlich liberal eingestellter Mitschüler seien eher Exoten gewesen.

Die neue Polit-Welle hat sogar die Jüngeren erfasst. „Auch unsere 13-Jährigen des siebten Jahrgangs unterhalten sich über die Landtagswahl“, sagt Sabrina Bippus, Leiterin der Gesamtschule „Schule am Schloss“, „die meisten wissen schon, was eine Erst- und eine Zweitstimme ist“.

Die Schule treibt die politische Willensbildung der Schüler voran. Im November ist ein Team der Friedrich-Ebert-Stiftung zu Gast in der Schule, sie wollen erklären, wie Kommunalpolitik funktioniert. Auf dem Programm steht ein gemeinsamer Besuch einer Sitzung der Potsdamer Stadtverordnetenversammlung an, danach werden die Mädchen und Jungen mit verteilten Rollen die Sitzung eines Jugendparlaments durchführen.

Doch die Werbung für die Landtagswahl erreicht nicht alle Debütanten. „Ich wähle aus Prinzip nicht“, sagt Bruno Herrmann. Den Namen des brandenburgischen Ministerpräsidenten kennt der 19 Jahre alte Mann nicht, dass Dietmar Woidke (SPD) eine rot-rote Koalition führt, weiß er nicht. „Ob ich wähle oder nicht: es verändert sich ja nichts“, meint Herrmann. Er hat die Voltaire-Schule nach der 10. Klasse verlassen, danach in einer Bäckerei gearbeitet und will eine Tischlerlehre beginnen. Seine Freunde sind „links und öko“, aber er hat sich von der Politik verabschiedet, bevor er sich richtig mit ihr angefreundet hat.

Die Landeszentrale für politische Bildung, aber auch die Schulen selbst haben viel dafür getan, das politische Interesse der jungen Brandenburger zu wecken. Auf dem Internetportal „Mach´s ab 16“ für Jungwähler etwa hat der Landesjugendring eine Vielzahl von Fragen beantwortet, die sich kaum jemand zu stellen traut. Etwa: „Muss ich den Stimmzettel unterschreiben?“ (Antwort: „Nein“). „Darf ich zu zweit in die Wahlkabine gehen?“ („Nein“). „Gibt es eine Kleiderordnung im Wahllokal?“ („Nein. Das Gesicht darf nicht verdeckt oder verschleiert sein. Ein öffentliches Ärgernis darf allerdings nicht erregt werden – ganz nackt also eher nicht“). Aber auch komplizierte Sachverhalte wie Überhangmandate sind verständlich erklärt.

Realistisch simuliert wurde die Landtagswahl an vielen Potsdamer Schulen bei der Juniorwahl. Mädchen und Jungen kreuzten in Wahlkabinen ihre Favoriten auf Stimmzetteln an, die Wahlbeteiligung war etwa mit 62,99 Prozent an der Gesamtschule am Schilfhof und mit 100 Prozent an der Montessori-Schule  sehr hoch. „Das Interesse an der Juniorwahl war groß“, sagt Astrid Thorak, Schulleiterin des Bertha-von-Suttner-Gymnasiums in Babelsberg.

Am Freitag wurden an den Potsdamer Schulen die Stimmzettel gezählt, das Ergebnis der Juniorwahl darf erst Sonntagabend, nach Schließung der Wahllokale, veröffentlicht werden.

Aus der Juniorwahl vor der Europawahl waren in Brandenburg die Grünen mit einem Stimmanteil von 27, 3 Prozent vor der AfD (11,4), der SPD (10,8) und der Linken (8,6) als Sieger hervorgegangen. „Die Partei“ kam auf 8,3 Prozent, die CDU auf 7,5 und die FDP auf 5,6.

Carsten Holm

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