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Manche Kinder werden antriebslos, haben Schlafprobleme, Kopf- oder Bauchschmerzen. 

© PANTHERMEDIA

Kinder im Lockdown: Wenn der Ausgleich fehlt

Homeschooling und Lockdown können Folgen für die Psyche und soziale Kompetenzen haben. Manche Kinder leiden massiv unter den ständigen und kurzfristigen Wechseln. 

Potsdam - Die beiden Söhne von Ulrike Koch haben sich im Lockdown verändert. „Sie schlafen nicht mehr alleine ein, liegen morgens manchmal ewig im Bett, sind dicht am Wasser gebaut“, beschreibt die Potsdamer Mutter. Der Erstklässler sei ängstlich und sehr anhänglich, der Fünftklässler oft lustlos. „Mein jüngerer Sohn ist sehr weinerlich geworden, dabei ist er sonst ein echter Kämpfer“, sagt Koch, der diese Entwicklung große Sorgen bereitet. „Ich glaube, dass das alle total lange beeinflussen wird.“ Zwar fängt am Montag für die Grundschüler der Wechselunterricht an, doch Koch fürchtet auch bleibende Folgen.

Ängste, Schlafprobleme oder Schmerzen

Diese Veränderung ist nicht ungewöhnlich. Sarah Blank und Stefanie Reich, die gemeinsam eine Psychotherapeutische Praxis für Kinder und Jugendliche in der Breiten Straße führen, beobachten viele junge Patienten mit ähnlichen Beschwerden. Im Laufe des Lockdowns sei die Zahl der Anfragen stark gestiegen, sagen die beiden. Häufige Symptome: „Viele Kinder haben vermehrt Ängste, etwa Trennungsängste. Selbst Jugendliche wollen plötzlich wieder bei den Eltern im Bett schlafen“, sagt Reich. Auch Schlafstörungen und eine erhöhte Reizbarkeit seien typisch. Bei manchen Kindern zeigen sich auch körperliche Symptome wie Kopf- oder Bauchschmerzen. 

Als Ursachen sieht Reich die große Unsicherheit und fehlende Beständigkeit. „Kinder und Jugendliche brauchen Verlässlichkeit, das gibt ihnen Sicherheit“, sagt sie. Die ständigen, kurzfristigen Wechsel der Situation – Schule, Homeschooling, Wechselunterricht – verlangen eine enorme Anpassungsleistung. „Gerade für Kinder, die sowieso eher ängstlich sind, ist dieser Wechsel ungünstig“, so Blank. Studien belegen, dass die Zahl der Kinder mit psychischen Auffälligkeiten im Lockdown zugenommen hat. 

Lernen lernen für Erstklässler

Die beiden Psychotherapeutinnen erläutern, dass die Problemstellung sich dabei je nach Altersgruppe unterscheidet. „Jugendliche befinden sich in der Ablösungsphase, in der sie eigentlich Abstand von den Eltern suchen“, sagt Reich. Das sei nun nur schwer möglich. Für Erstklässler ist die Schule noch völlig neu – und wurde nun wochenlang durch Distanzunterricht ersetzt. „Diese Kinder kennen Schule noch gar nicht richtig, die Erwartungen sind unklar“, sagt Blank. Sie müssen das Lernen erst lernen. Die Eltern würden in die Lehrerrolle gedrängt. 

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Davon berichtet auch ein Potsdamer Vater, dessen Tochter die erste Klasse der Internationalen Grundschule besucht. „Als Eltern können wir nicht leisten, was Schule leisten kann“, sagt er. „Wir kommen zu Hause nicht so weit, wie sie mit Präsenzunterricht schon sein könnte.“ 

Lieber locker lassen?

Dass man damit sehr unterschiedlich umgehen kann, zeigt ein Gespräch mit einer Mutter von drei Kindern, ein Erstklässler, ein Ein- und ein Dreijähriger. „Ich sehe das sehr locker und will keinen Druck machen“, sagt die 33-Jährige. Die Homeschooling-Aufgaben erledige ihr Sohn nur teilweise. „Wir sind einfach total gerädert, da ist das nicht einfach umzusetzen.“ Der Familiensegen sei ihr wichtiger als die vollständige Erledigung der Arbeitsblätter. „Wir wollen als Familie so gut wie möglich durch den Lockdown kommen. Streit bringt nichts, das ist es mir nicht wert.“ Sie versuche, das positiv zu sehen. „Mein Ältester hat jetzt mehr Zeit für andere Dinge, kann mehr mit seinem Babybruder spielen.“ Er könne trotzdem schon gut lesen und rechnen. Und: „Zur Not muss er das Jahr eben wiederholen, dann ist es so.“ 

Auch eine Potsdamer Grundschullehrerin fürchtet Defizite. „Es kann gut sein, dass sich Lücken auftun werden, die sich sonst nicht aufgetan hätten.“ Schon vorher habe es eine Schere zwischen den Wissensständen der Kinder gegeben. Das könnte sich verschärft haben. „Im Distanzunterricht habe ich kaum Möglichkeiten, einzelne Kinder zu fördern“, sagt sie. 

Die Dynamik der Gruppe

Dazu komme der fehlende Kontakt zu Mitschülern. „Den Kindern fehlt der Ausgleich. Auch mal herumzutoben, Quatsch zu machen, das ist ganz wichtig“, sagt Therapeutin Blank. Durch das Fehlen könne auch die Motivation schwinden. Auch soziale Kompetenzen lernen Kinder sonst durch den Kontakt mit Mitschülern: Gegenseitige Rücksichtnahme, Hilfe, Konfliktlösung. „Jetzt ziehen sich manche sehr stark zurück, die Isolation führt zur Unsicherheit im Umgang mit anderen“, sagt Blank. 

Auch die Lehrerin fürchtet, dass das Verhalten in der Gruppe nun erst wieder erlernt werden muss. „Die Kinder waren jetzt oft auf sich allein gestellt“, sagt sie. „Sie werden wieder lernen müssen, sich auch einmal zurückzunehmen, Aufgaben allein zu versuchen, ohne dass die Eltern sofort helfen.“ 

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