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Interview mit Joachim Zehner: „Den Pharao haben wir auch nicht überzeugt“

Potsdams ehemaliger Superintendent Joachim Zehner über die Kritik an der Garnisonkirche, die Situation der evangelischen Kirche, den Umgang mit Missbrauchsfällen und seine künftige Arbeit für den neuen Stadtteil in Krampnitz.

Von Peer Straube

Herr Zehner, nach zehn Jahren als Superintendent der Evangelischen Kirche in Potsdam sind Sie jetzt verabschiedet worden. Welches Erlebnis, welche Begegnung hat Sie in dieser Zeit am meisten berührt?
 

Das kann ich klar sagen. Das war die gemeinsame Trauerstunde am Schlaatz für den kleinen Elias...

...der sechsjährige Junge, der 2015 am Schlaatz entführt, grausam misshandelt und ermordet worden war...

Ja, schrecklich. Da sind der Oberbürgermeister und ich gemeinsam hingegangen, er als Repräsentant der Stadt und ich als Repräsentant der Kirche. „Lass dich nicht vom Bösen überwinden, sondern überwinde das Böse mit Gutem“ war mein Leitsatz aus der Bibel. Das war für mich mit Abstand das bewegendste Erlebnis.

Als ehemaliger Chefgeistlicher für rund 25 000 Protestanten in und um Potsdam: Sind Sie zufrieden mit der Lage der evangelischen Kirche hier?

Potsdam hat lebendige Gemeinden und eine vorzügliche Infrastruktur. Wenn ich einen Wunsch äußern darf...

Bitte sehr!

Ich weiß, wir haben eine freie Presse, aber ich habe bei meinem Abschied vergessen, der Kirchenverwaltung in Potsdam zu danken, dem Verwaltungsamt, wie wir es nennen. Die leisten nämlich vorzügliche Arbeit. Also, wenn dieser Satz im Interview drinbleiben könnte, das wäre schön.

Der Satz bleibt drin.

Das freut mich. Wissen Sie, die PNN wird gelesen und ich weiß ja, wie die Artikel in Ihrer Zeitung bei den Gemeindegliedern ankommen. Wenn ein PNN-Autor zum Beispiel etwas über eine Initiative schreibt, die sich für die Sanierung einer Kirche engagiert, dann ist das für die Beteiligten wie eine Adrenalinspritze. Das motiviert die Menschen ungeheuer. Ich glaube, auch deshalb ist der Potsdamer Kirchenkreis der einzige innerhalb der Landeskirche, der wächst.

Trotzdem hat er von dem enormen Zuzug nicht in dem Maße profitiert, wie er eigentlich müsste. Woran liegt das?

In der evangelischen Kirche herrscht „Sola Structura“, das heißt, ständig wird an irgendwelchen Strukturen gearbeitet, Gemeinden und Kirchenkreise werden fusioniert. Für die Gemeindeglieder ist das auch ein Verlust an Heimat. Das führt dann zu einer erschreckend hohen Zahl von Kirchenaustritten. Aber ich bin optimistisch und ich arbeite gegen diesen Trend, etwa mit Glaubenskursen für Erwachsene oder Tauffesten. 70 Wiedereintritte gab es deswegen allein in den vergangenen zwei Jahren.

Altbischof Wolfgang Huber hat als einen Hauptgrund für die im Osten verbreitete Distanz zur Kirche die Religionsfeindlichkeit der DDR ausgemacht. Wie groß ist dieses Problem in Potsdam?

Die Religionssoziologen sagen: „Die Menschen haben vergessen, dass sie Gott vergessen haben.“ Im Osten sind die Menschen tatsächlich besonders säkularisiert. In Potsdam sehe ich eigentlich nur Chancen. 220 evangelische Schulen sind seit der Wende auf dem Gebiet der ehemaligen DDR entstanden – und zwar nicht auf Initiative der Amtskirche, sondern vor allem von Eltern, die eine evangelische Schule in ihrer Nähe haben wollten, Eltern, die wollen, dass ihre Kinder mit christlichem Glauben aufwachsen. Das ist toll und ein außerordentlich ermutigendes Zeichen. Und wenn ich noch eine Zahl nennen darf: 250 000 Schüler im Osten Deutschlands besuchen den Religionsunterricht.

Und wie viele sind es in Potsdam?

Das weiß ich leider nicht. Aber Fakt ist, dass wir den Bedarf in der Stadt mit den zur Verfügung stehenden Religionslehrern kaum decken können. Margot Honecker (die ehemalige DDR-Bildungsministerin – Anm.d.Red.) würde sich im Grabe umdrehen!

Müssten Sie in den Plattenbaugebieten nicht mehr Präsenz zeigen, um Menschen für die Kirche zurückzugewinnen?

Wir sind dort sehr präsent. Eine Besonderheit dieses Kirchenkreises ist ja die „Kirche im Kiez“, eine tolle Initiative, die von der Stern-Kirche ausgegangen ist und die mit vor allem auf den Stadtteil Schlaatz zugeschnittenen Veranstaltungen Menschen für den Glauben gewinnen soll.

Allerdings haben Sie die damalige „Kirche im Kiez“-Pfarrerin und für den Schlaatz zuständige Seelsorgerin Ute Pfeiffer Ende 2015 plötzlich suspendiert – zu einer Zeit, als Potsdam und insbesondere der Schlaatz nach der Entführung von Elias Trost und Zuspruch sehr nötig gehabt hätten.

Ich bedaure das immer noch sehr, kann aber als damaliger Vorgesetzter die Gründe, die zu diesem Schritt geführt haben, nicht öffentlich machen. Ich bitte da um Verständnis. Und mit Tobias Stute ist mittlerweile ein Nachfolger gefunden, der die Arbeit weiterführt.

Es hat keinen Bruch gegeben mit den Menschen vor Ort?

Nein. Jedenfalls nicht von meiner Seite aus.

Kommen wir zu einem anderen heißen Eisen. Sie sind Mitglied im Kuratorium der Garnisonkirchen-Stiftung und haben den umstrittenen Wiederaufbau des Gotteshauses stets verteidigt. Warum ist es bislang nicht gelungen, die Kritiker zu überzeugen?

Nun ja, den Pharao konnten wir ja auch nicht überzeugen. (lacht)

Sie spielen auf die Bibel an, die Weigerung des ägyptischen Herrschers, die Israeliten unter Moses Führung ziehen zu lassen.

Ja. Im Ernst: Wir müssen mit den Kritikern immer wieder reden, reden, reden.

Das hat man – mit wenig Erfolg – auch getan. Dennoch wenden sich auch viele Christen gegen das Projekt. Ihr Vorwurf lautet, von einer Aufarbeitung der braunen Geschichte der Garnisonkirche sei im Konzept wenig erkennbar. Was entgegnen Sie?

Da muss ich widersprechen. Erst kürzlich wurde ja ein wissenschaftlicher Beirat gegründet, der solche Vorurteile ausräumen soll – auf Anraten übrigens vom Schirmherr des Wiederaufbaus, Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier.

Auf diese Idee hätte man freilich auch früher kommen können.

Ein solches Projekt wächst ja im Laufe der Zeit, es ist ein Prozess. Und es ist ja auch gut, dass diskutiert wird. Ich bin für den Wiederaufbau, weil das im Einklang mit meinen eigenen Überzeugungen steht – und das muss ich auch den Gegnern zugestehen. These und Gegenthese, wie bei Luther.

Warum sind Sie für den Wiederaufbau?

Wissen Sie, ich habe über die deutsch-französische Aussöhnung habilitiert, über die Frage: Gibt es Vergebung unter Völkern? Dass wir nach so viel Hass und Gewalt wieder zusammengefunden haben, ist der größte Schatz, den wir in Europa haben. Das sollten wir exportieren und genau dafür steht die Garnisonkirche. Es ist ein Wiederaufbau mit einer Botschaft: Umkehr und Versöhnung sind möglich in Europa.

Noch ist diese Botschaft aber recht unscharf. Der Wiederaufbau wird seit anderthalb Jahrzehnten vorangetrieben, ohne dass es bislang ein schlüssiges Konzept für die Versöhnungsarbeit gibt.

Das finde ich nicht. Wir wollen ein Zeichen für die Kraft für die Versöhnung setzen, ein Zeichen für die Umkehr – nämlich, dass der Mensch die Kraft hat, Irrwege zu verlassen. Wir haben den brillantesten Friedensethiker Deutschlands, nämlich Altbischof Wolfgang Huber, als Kuratoriumsvorsitzenden der Garnisonkirchen-Stiftung. Und wir suchen natürlich auch weiterhin den Dialog.

Es gab ja vor Jahren schon Bestrebungen, die NS-Geschichte der Potsdamer Kirche für jede Gemeinde einzeln aufzuarbeiten. Warum ist man da bis heute nicht weiter?

Es gibt ja bereits eine Wanderausstellung zu Anni von Gottberg – die kann als Katalysator wirken, tiefer in die Materie einzudringen. Wir sind offen für das Thema.

Offen zu sein ist womöglich zu wenig. Es bedarf vielleicht eines Anstoßes, denn offenbar wird Aufarbeitung der NS-Zeit immer noch von vielen Gemeinden gescheut.

Ich scheue es nicht. Wir haben ja gerade eine Pfarrstelle zur Erinnerungsarbeit eingerichtet. Ich bin auch sicher, dass die Arbeit des wissenschaftlichen Beirats für die Garnisonkirche da Vorbildwirkung haben wird. Und im Übrigen hat Stadtkirchenpfarrer Simon Kuntze das Thema NS-Aufarbeitung ganz klar auf dem Schirm.

Ein Thema, das der Kirche weltweit schadet, ist der Umgang mit Missbrauchsfällen durch Amtsträger. In Potsdam ist der Fall von Uwe D. noch gut in Erinnerung. Wie geht die Kirche hier mit solchen Fällen um?

Wir sind hoch sensibilisiert für dieses Thema. Und wir haben Strukturen aufgebaut, die sicherstellen, dass verantwortungsvoll damit umgegangen wird.

Wie sehen diese Strukturen konkret aus?

Einmal werden unsere Mitarbeiter regelmäßig geschult. Bei Einstellungen wird auf etwaige Einträge im polizeilichen Führungszeugnis geachtet. Wir haben auch eine Hotline bei der Landeskirche eingerichtet, wo man sich anonym melden kann. Der Kampf gegen sexualisierte Gewalt ist ganz, ganz wichtig.

Gab es denn konkrete Fälle?

Mir sind bislang keine bekannt.

Nicht nur Potsdams christliche Gemeinden wachsen, es gibt durch den Zustrom von Flüchtlingen auch mehr Muslime. Altbischof Huber hatte sich bereits für den Bau einer Moschee in Potsdam ausgesprochen. Teilen Sie diese Ansicht?

Die Religionsfreiheit ist ein sehr hohes Gut. Und wenn wir – mit Recht – von Ländern, in denen Christen verfolgt werden, die freie Ausübung des Glaubens verlangen, müssen wir dieses Recht umgekehrt auch Andersgläubigen hier zubilligen. Ich finde es darum erst einmal gut, dass sich die Situation für die Muslime in der Moschee Am Kanal verbessert hat. Wir pflegen übrigens einen guten Kontakt – nicht zuletzt über unseren Flüchtlingsseelsorger.

Wie erleben Sie in den Gemeinden denn die Arbeit mit Flüchtlingen?

Als sehr beglückend – weil es über die Hilfsbereitschaft in den Gemeinden auch einen Aufbruch gab. Wir haben zur Flüchtlingsfrage auch einen ganz klaren Standpunkt: Den Obdachlosen führe ins Haus. Und ich halte es da mit der Aussage der Bundeskanzlerin: Wir schaffen das! Ich selbst habe drei Iraner getauft und ihnen Paten an die Seite gestellt. Ich war mit ihnen beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge und wegen einer drohenden Abschiebung auch mit vor dem Verwaltungsgericht. Da haben wir auch gewonnen, wenigstens in einem Fall. Das sind doch Menschen, die etwas können.

Ein Teil der Bevölkerung sieht das anders. Selbst im eher links orientierten Potsdam gibt es ein Wählerpotenzial von rund zehn Prozent für die AfD. Woran liegt das?

Ich denke, auch die Kirche hat zu wenig mit den Menschen, die AfD wählen, geredet. Wir müssen da mehr tun und auch Aufklärungsarbeit leisten. Die Angst vor dem Verlust des eigenen Wohlstands ist eine Urangst. Ich bin stolz auf unsere Brüder der evangelischen Kirche in Chemnitz, die sich gegen den Ausländerhass und die Hetze gewandt haben. „Aufeinander hören, miteinander handeln“, lautete ihr Motto. Das sind wir, das ist die evangelische Kirche. Wir dürfen unsere Grundüberzeugungen nicht aufgeben.

Ihr Abschied vom Amt war nicht ganz freiwillig, unter anderem hatte sich der Kreiskirchenrat für eine Neubesetzung stark gemacht. Wie groß ist der Schmerz, nicht als Superintendent weitermachen zu können?

Ich hätte gerne weitergemacht, ein bisschen Trauer ist also schon dabei, denn ich war ja gerne in Potsdam. Andererseits weiß ich natürlich auch, dass das Amt ein Wahlamt ist.

Sie bleiben Potsdam ja erhalten. Sie sollen im Kirchenkreis Falkensee, zu dem auch Krampnitz gehört, für Glaubenskurse und das neue Wohnquartier zuständig sein. Was genau ist Ihre Aufgabe?

Zum Beispiel darüber nachdenken, wie sich die Kirche im Entwicklungsgebiet Krampnitz einbringen kann. Wir würden gern mit einer Kita, einem Seniorenzentrum und einem Bürgerhaus dort präsent sein.

Und wer soll die betreiben?

Große diakonische Einrichtungen sind angefragt. Ich habe ein Team aus Gemeindegliedern des Sprengels Fahrland, Vertretern der Diakonie und des Kirchenkreises gebildet, das sich um die Details kümmern soll. Ein Konzept ist also in Arbeit.

Wünschen Sie sich dort auch eine Kirche?

Man muss sehen. Im Moment ist keine vorgesehen.

In Krampnitz sollen einmal 10 000 Menschen wohnen. Wie hoch, glauben Sie, wird der Anteil von Protestanten sein?

15 Prozent, wenn wir uns an den Zahlen für Potsdam orientieren. Vielleicht aber auch ein bisschen mehr, denn wir gehen davon aus, dass dort auch viele Christen aus anderen Bundesländern hinziehen werden, etwa aus Baden-Württemberg.

Haben Sie eigentlich eine Lieblingskirche in Potsdam?

Die Friedenskirche, wo mein Arbeitsplatz war. Jeder Pfarrer liebt seine eigene Kirche.

Was muss Ihre Nachfolgerin anpacken?

Den Gemeindeaufbau. Dafür sorgen, dass sich die Menschen wieder der Kirche zuwenden. Wachsen gegen den Trend ist möglich. Dazu bedarf es spezieller Angebote – Glaubenskurse, Tauffeste und Willkommenskultur gegenüber Kirchenrückkehrern.

Als Darmstädter und damit als Hesse: Wie hat die Arbeit in Brandenburg Sie geprägt?

Ich war neun Jahre lang Pfarrer in Frankfurt an der Oder und dann zehn Jahre Superintendent in Potsdam. Und ich muss sagen, diese 19 Jahre waren die schönsten meines Lebens.

+++

Joachim Zehner, 61, wurde in Darmstadt in Hessen geboren. Nach einer Ausbildung zum Buchhändler lebte er Ende der 1970er-Jahre einige Zeit in einem Kibbuz in Israel. Er studierte Theologie in Tübingen und promovierte bei dem bekannten Schweizer Theologen und Kirchenkritiker Hans Küng. Anfang der 1990er-Jahre arbeitete Zehner zunächst als Schulpfarrer in Berlin, 1999 wurde er Pfarrer in Frankfurt (Oder) und lehrte auch an der dortigen Europa-Universität Viadrina. Von 2008 bis Ende August 2018 war er Superintendent des Evangelischen Kirchenkreises Potsdam. 

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