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Manuela Kiss, Vorsitzende des Behindertenbeirats Potsdam.

© Ottmar Winter

Interview | Manuela Kiss: "Barrierefreiheit noch immer keine Selbstverständlichkeit"

Manuela Kiss, die Vorsitzende des Potsdamer Behindertenbeirats, über Barrierefreiheit in der Stadt, die vakante Stelle des Behindertenbeauftragten, Mängel am blu und interne Unstimmigkeiten.

Von Matthias Matern

Frau Kiss, 2005 hat sich Potsdam per Beschluss den Zielen der Barcelona-Erklärung von 1995 verschrieben. Öffentliche Wege und Plätze sollen so umgestaltet werden, dass sich Personen mit Behinderungen ohne Einschränkung Ihrer Mobilität in der Stadt bewegen können. Wie zufrieden sind Sie mit dem, was bisher erreicht worden ist?
Es gibt noch viel Handlungsbedarf. Wenn wir nach der UN-Behindertenrechtskonvention (Anm. d. Red.: Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderung) aus dem Jahr 2008 gehen, ist Potsdam sogar Entwicklungsland.

Wieso? Wo liegen die Probleme?
Bei der Barrierefreiheit an sich. Da geht es ja nicht nur um das Kopfsteinpflaster oder den rutschfesten Belag und den Denkmalschutz, sondern darum, dass man überall hinkommt, wo man eben hinwill. Und zwar ohne Hilfe. Das betrifft alle Lebensbereiche: Bildung, Freizeit, Familie, Arbeit, Pflege. Wegen der vielen Gebäude in Potsdam, die unter Denkmalschutz stehen, ist die mobile Barrierefreiheit natürlich nicht ganz leicht zu erreichen. Allzu oft heißt es, wir würden ja gerne, aber da steht der Denkmalschutz im Wege. Aber wo ein Wille ist, ist doch auch ein Weg.

Gibt es auch positive Beispiele?
Man hat einfach immer das Gefühl, dass Barrierefreiheit noch immer keine Selbstverständlichkeit ist. Dabei sind nicht immer große Summen notwendig. Ich war zuletzt zum Beispiel in Italien und den Niederlanden unterwegs. Die haben auch viele alte Gebäude unter Denkmalschutz und trotzdem in alter Bausubstanz Barrierefreiheit für alle geschaffen. Das ist lobenswert. Dass das auch in Potsdam geht, zeigt die Orangerie. Dort soll jetzt ein barrierefreier Zugang für den Veranstaltungssaal geschaffen werden, ohne großartig an die Substanz zu gehen.

In der Vergangenheit gab es auch immer wieder Kritik am blu. Es heißt, besprochene Maßnahmen für mehr Barrierefreiheit seien nicht richtig umgesetzt werden.
Da gibt es sicherlich auch Handlungsbedarf. Mit dem Thema war damals aber vor allem der vorige Beirat beschäftigt. Wir haben zu dem Thema tatsächlich mehrere Bürgeranfragen. Ein Bürger hat sich bei uns gemeldet und gesagt, es sei dort nicht alles rutschfest, es fehlten an manchen Stellen entsprechende Haltegriffe. Auch die Sitzgelegenheiten oder Liegen seien für Rollstuhlfahrer wohl nicht so, wie sie hätten sein sollen. Es gab vor Kurzem auch eine Begehung. Wenn wir das Protokoll haben, können wir genau sagen, wo nachgebessert werden muss. Theoretisch ist es aber doch so: Ich mache als Architekt einen Plan, hole mir die Meinung der entsprechenden Experten ein, lasse mir das alles so genehmigen und setze es dann um. Warum das offenbar so nicht gelaufen ist, kann ich Ihnen gar nicht sagen. Das muss geklärt werden.

Der Linke-Stadtverordnete Sascha Krämer setzt sich für zusätzliche Straßenschilder in Potsdam für Sehbehinderte ein. In der Oberlin-Metallwerkstatt ist jetzt ein erstes Muster entstanden. Was halten Sie von der Idee?
Die Idee ist gar nicht so schlecht. Ich kenne das Original aus der Stadt Wedel in Schleswig-Holstein. Ob es nachher aber diese Schilder sind, barrierefreie Apps oder Ansagen über das Handy, das muss man sehen. Aber es ist auf jeden Fall ein erster Schritt in die richtige Richtung.

Unzufrieden sind Sie auch mit dem digitalen Angebot des Rathauses für Menschen mit Behinderungen. Vor Kurzem haben Sie gesagt, von einer barrierefreien Internetseite sei Potsdam noch sehr weit entfernt. Was wünschen Sie sich?
Da gibt es auch eine ganze Menge kleiner Sachen, die man recht schnell umsetzen könnte. Man könnte zum Beispiel den Text auf der Internetseite hörbar machen. Es wäre auch schön, wenn die Orientierung auf der Seite erleichtert werden würde. Ein gutes Beispiel sind die Seiten der Lebenshilfe. Da ist immer auf der linken Seite oben das Logo und darunter immer die Lautstärkeregelung und die Schriftgrößeneinstellung. Unten sind außerdem immer Bilder und darüber die Schrift. Über die ganze Seite findet sich immer die Schaltfläche für die Vorlesefunktion. Das erleichtert die Orientierung.

Seit einem guten halben Jahr ist der Posten des Beauftragten für Menschen mit Behinderungen in Potsdam vakant. Frühestens im Herbst soll er erneut ausgeschrieben werden. Wie macht sich die Lücke bemerkbar?
Das macht sich sehr stark bemerkbar. Der Beauftragte ist ja unsere Verbindung zur Stadtverwaltung und Politik. Er ist immens wichtig, weil wir als Beirat nicht an allen Informationen teilhaben können, weil wir sie nicht bekommen oder nicht gefragt werden oder einfach nicht dabei sind. Aber wir wollen und müssen überall dabei sein. Mit Herrn Richter, dem vorigen Behindertenbeauftragten, konnten wir gut zusammenarbeiten und haben viele wichtige Sachen in die Wege geleitet. Der barrierefreie Weihnachtsmarkt in der Brandenburger Straße etwa, zum Thema barrierefreier Wohnraum oder die Frage nach der Gestaltung des ganzen Sozialraums in den einzelnen Stadtbezirken. Persönlich bin ich übrigens der Meinung, dass diesmal eine Frau Beauftragte werden sollte. Gerade die Sichtweise von Frauen mit Behinderung muss mehr in den Mittelpunkt gestellt werden.

Sind Sie zum Thema Neubesetzung schon an die Stadt herangetreten?
Ja. Uns wurde gesagt, dass die Stelle möglichst zügig ausgeschrieben werden soll. Aus welchen Gründen das so lange dauert, kann ich Ihnen nicht sagen.

Im Mai 2019 hatte Christoph Richter in seiner Rede vor den Stadtverordneten der Politik noch einige Anregungen ins Aufgabenheft diktiert. Unter anderem hat er darauf hingewiesen, dass es keine Übersicht gibt, wie viel barrierefreier Wohnraum überhaupt zur Verfügung steht. Stimmt das?
Ich habe keine Kenntnis von einer Bestandsanalyse oder Ähnlichem. Aber das wäre der zweite Schritt. Der erste muss sein, dass die Stadt sich überlegt: wollen wir tatsächlich die Inklusion oder nicht? Wollen wir gemeinsam unsere Stadt gestalten und das Leben für Menschen mit Behinderungen spürbar verbessern? Wer das will, der schafft Wege. Wer keine Inklusion will, schafft Begründungen. Und diese Begründungen hören wir sehr oft in dieser Stadt. Wir hören sehr oft Gründe, warum etwas nicht geht. Dabei hat doch Potsdam den Slogan ’Eine Stadt für alle’. Diese liebenswerte Stadt könnte wirklich ein Vorbild sein.

Unter anderem hat Christoph Richter in seiner Rede auch die Bedingungen für den Beirat angesprochen und dafür ein eigenes Budget sowie mehr barrierefreie Räume gewünscht. Was brauchen Sie für Ihre Arbeit?
Zumindest das Beiratsbüro sollte barrierefrei sein. Darüber waren wir bereits mit der Stadt im regen Austausch. Leider ist hier in diesem Haus die Tür aber noch immer nicht barrierefrei. Da müssen wir also noch mal ran. Aber das ein entsprechendes Budget da sein muss, mit dem man auch Assistenten oder Gebärdensprachdolmetscher bezahlen kann, ist doch klar. Das gehört zum allgemeinen Standard von Barrierefreiheit.

Wie ist es derzeit?
Derzeit müssen wir alles beantragen und dann wird es vielleicht genehmigt oder auch nicht. Man muss aber auch sagen, dass beim diesjährigen Oberbürgermeister-Empfang jemand dabei war, der alles in Gebärdensprache übersetzt hat. Das ist lobenswert.

Beim Neujahrsempfang der Stadt Potsdam übersetzte Dolmetscher die Reden, wie hier bei der Ansprache von Oberbürger Mike Schubert, in Gebärdensprache.
Beim Neujahrsempfang der Stadt Potsdam übersetzte Dolmetscher die Reden, wie hier bei der Ansprache von Oberbürger Mike Schubert, in Gebärdensprache.

© Foto. Sebastian Gabsch

Hat sich mit Mike Schubert als neuem Oberbürgermeister Ihrer Meinung nach etwas verändert?
Ich glaube schon, dass sich da die Mentalität im Rathaus etwas verändert hat. Man merkt so ein bisschen einen Aufbruch.

Wichtig waren dem früheren Beauftragten Richter die Schaffung sogenannter Sozialräume. Was ist damit gemeint und gibt es da schon positive Beispiele?
Damit sind Treffpunkte in den einzelnen Stadtbezirken von Potsdam gemeint, an dem alle und jeder zusammenkommen können. Und dabei geht es ja bereits um die Frage, wie man dort hinkommen kann. Es gibt zwar in Ansätzen Leitsysteme, die aber hier und da unterbrochen sind oder ganz abbrechen. Selbst die Straßenbahnen beziehungsweise der öffentliche Nahverkehr sind nicht immer barrierefrei. Allgemein gesehen gibt es schon positive Beispiele in der Stadt. Man kann als Beispiel vielleicht das Thalia-Kino in Babelsberg nennen. Dort bieten sie etwa Filmreihen für Menschen mit Autismus an oder große Präsentationen, wenn man mal das Gefühl hat, man möchte mit mehreren Personen zu bestimmten Themen ins Kino gehen. Es gibt auch einen eigenen Rollstuhlzugang, allerdings nicht von vorne. Es ist also relativ barrierefrei, nur nicht für Blinde. Aber da sehen wir den Willen, sich zu öffnen.

Hinkt Potsdam insgesamt anderen vergleichbaren Städten hinterher?
Ja. Ich kenne andere Landeshauptstädte, die mit europäischen Fördermitteln viel mehr geschaffen haben. Potsdam muss sich da vielleicht noch mal auf den Weg machen.

Ende des Jahres 2019 gab es offensichtlich Unstimmigkeiten im Behindertenbeirat. Drei Mitglieder sind von ihren Posten zurückgetreten. Kritisiert wurde etwa ein teilweise unterschiedliches Engagement mancher Mitglieder und Unklarheit bei der Zielsetzung. Sind die Stellen wieder besetzt?
Der Beirat besteht aus insgesamt 20 Mitgliedern. Im Moment sind es 18. Zwei Neue sind auf dem Weg. Aber ich möchte betonen, dass dies ein ehrenamtliches Engagement ist. Und eigentlich möchte man dafür von der Stadt entsprechende Bedingungen haben. Das war nicht immer so. Jetzt haben wir zumindest als Beirat in den Ausschüssen auch Rederecht und können somit mitdiskutieren und Dinge auf den Weg bringen, die wir wichtig finden. Aber es ist natürlich auch schwierig, mit 20 Mitgliedern so ein Schiff zu segeln. Jeder möchte natürlich auch die eigene Sichtweise einbringen. Das ist auch gut so. Das soll so sein. Dass nun drei Mitglieder zurückgetreten sind, ist relativ normal. Es gibt immer Befindlichkeiten. Die haben wir zwar jetzt immer noch, aber es lässt sich trotzdem arbeiten.

Welche Themen stehen für den Beirat in diesem Jahr an erster Stelle?
Natürlich ist die Umsetzung des Teilhabeplans 2.0 ein großes Thema. Und nach wie vor die Barrierefreiheit ganz allgemein – für alle! Das muss man einfach so sagen. Dann haben wir begonnen, für Potsdam einen eigenen Inklusionspreis einzuführen. Daran werden wir weiter arbeiten. Außerdem haben wir in den Ausschüssen das Thema Inklusion in den Schulen wieder auf die Tagesordnung gebracht. Auch Positionspapiere dafür verfasst. Dann die Teilhabe am Arbeitsmarkt. Pflege ist ein großes Thema. Und im Allgemeinen die Chancengerechtigkeit. Ach, ich könnte noch viel, viel mehr aufzählen. Es ist praktisch ein Fass ohne Boden, es gibt eben noch so viel zu tun.

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