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Nadiya Velychko, Konzertorganistin aus Lwiw, ist nach Potsdam geflohen. Jetzt übt sie täglich in der Nikolaikirche.

© Ottmar Winter

Geflohen aus der Ukraine: Lwiwer Organistin spielt in der Nikolaikirche

Nadiya Velychko, die Organistin der Konzerthalle Lwiw, ist nach Potsdam geflohen. Sie spielt beim Benefizkonzert am Samstag - und am Jahrestag der Bombardierung Potsdams.

Potsdam - Jeden Tag übt sie an der Orgel in der Nikolaikirche. „Das ist wie ein Gebet, eine Meditation“, sagt Nadiya Velychko. Die Organistin der Orgel- und Konzerthalle in Lwiw ist Ende Februar mit ihrem achtjährigen Sohn vor dem Krieg geflohen - ohne genau zu wissen, wohin. Seit zwei Wochen lebt sie in Potsdam. Am Samstag (26.3.) wird sie in der Nikolaikirche ihr erstes Konzert geben – ein Benefizkonzert mit zwei anderen ukrainischen Musikerinnen, dem Nikolaichor und weiteren Potsdamer Chorsänger:innen unter Leitung des Nikolaikantors Björn O. Wiede. Ihm ist es auch zu verdanken, dass es Nadiya Velychko nach Potsdam verschlagen hat.

In der Nikolaikirche kann sie musizieren wie im "Leben davor"

„Dass ich hier in der Kirche die Orgel spielen kann, ist sehr wertvoll und wichtig für mich“, sagt die 47-Jährige im Gespräch mit den PNN. Das Musizieren sei ein Anknüpfungspunkt an das „Leben davor“. Vor dem 24. Februar 2022, als die russische Armee den Angriffskrieg gegen ihr Heimatland eröffnete. Seit dem Tag gibt es für alle Ukrainer das Leben "davor" und "danach".

Davor sei zwar immer von der Möglichkeit des Krieges gesprochen worden. „Aber ich konnte mir nicht vorstellen, dass es wirklich dazu kommt.“ Als dann landesweit die Bomben fielen, sei das für sie wie ein Alptraum gewesen, sagt Nadiya Velychko. Mittlerweile ist Lwiw, wo sie geboren und aufgewachsen ist, zweimal bombardiert worden. Weil die Stadt im Vergleich zu anderen Regionen aber bislang noch glimpflich davongekommen ist, ist sie zum Anlaufpunkt für Geflüchtete aus anderen Landesteilen geworden.

Das Internationale Interesse an ukrainischer Musik ist gewachsen

„Meine geliebte Stadt hat die Herzen geöffnet für die Menschen“, sagt Nadiya Velychko. Die Kultur sei dabei nicht vergessen worden. Sie erzählt von künstlerischen Antikriegsaktionen, auch an ihrem Arbeitsplatz, in der Orgelhalle, einer ehemaligen Kirche. Viele Zuhörer seien zu den Konzerten gekommen, zum Anfang sei jedes Mal die ukrainische Hymne erklungen. „Künstler wissen, wie wichtig es ist, den Ukrainern auch eine spirituelle Unterstützung zu sein.“

Mit solchen Aktionen verbindet sich nicht zuletzt der Wunsch, dass die Welt über den Krieg in der Ukraine, die Lage der Menschen dort, erfährt. Dass die Solidarität im Ausland groß ist, zeigt das gestiegene Interesse an ukrainischer Musik. „Es gibt Anfragen von Musikern weltweit nach ukrainischen Stücken“, berichtet Nadiya Velychko. Allein die Lwiwer Orgelhalle habe seit Kriegsbeginn mehr als 1000 Partituren für Konzerte und Orgelstücke verschickt. „Das macht mich stolz“, sagt die Organistin.

Mit dem Bus nach Polen - ohne genaues Ziel

Am 28. Februar, dem fünften Tag des Krieges, verließ sie die Stadt mit ihrem Sohn in einem regulären Bus in Richtung Polen, ohne genaues Ziel. Viele andere Geflüchtete seien mit im Bus gewesen, fast nur Mütter mit Kindern. „Die Atmosphäre war angespannt“, erzählt Nadiya Velychko. Besonders schockiert habe sie, wie Kinder aus bereits hart umkämpften Gebieten traumatisiert unter schwerem Stress litten. „Ich musste weinen“, sagt die Organistin. Die Fahrt ging langsam voran, wegen der vielen Autos bildete sich ein Stau. An der polnischen Grenze ging es dann aber schnell. Die Pässe wurden kontrolliert, die wenigen Männer aus dem Bus geholt – Ukrainer im wehrfähigen Alter dürfen das Land nicht verlassen.

Nadiya Velychkos Mann blieb mit den zwei Katzen in Lwiw. Fast jeden Tag telefoniert sie mit ihm. Wann sie sich wiedersehen werden, ist ungewiss. „Es ist schwierig, Pläne zu machen“, sagt die 47-Jährige. „Ich habe Angst, dass Lwiw bombardiert werden könnte.“ Sorgen macht sie sich auch um Freunde in der ostukrainischen Hafenstadt Mariupol, die die russische Armee belagert und mit dauerhaftem Beschuss terrorisiert. Seit drei Wochen habe sie die Freunde nicht mehr erreichen können, weiß nicht, wie es ihnen geht.

Nikolaikantor Björn O. Wiede lud die Organistin nach Potsdam ein

Noch im Bus nach Polen bekam sie einen Anruf vom polnischen Organisten Marek Stefański, Hochschullehrer in Krakow. Er erzählte ihr von der Einladung nach Potsdam. Eigentlich hatte Nikolaikantor Wiede nach Kriegsbeginn zunächst „nur“ ein Benefizkonzert auf die Beine stellen wollen und sich bei seinen polnischen Künstlerfreunden nach einer geeigneten ukrainischen Organistin umgehört, wie er den PNN erzählte: „Dann überstürzten sich die Ereignisse.“ Als er von der Flucht erfuhr, konnte über die Kirchengemeinde eine Unterkunft organisiert werden.

Nadiya Velychko lebt nun mit ihrem Sohn in der Nauener Vorstadt, teilt sich die Bleibe mittlerweile mit einer Freundin aus Lwiw und deren zwei Kindern. Der Sohn besucht neben dem Online-Unterricht auf Ukrainisch jeden Tag für zwei bis drei Stunden eine Potsdamer Schule – und ist glücklich, wie die Mutter berichtet. Auch sie selbst ist langsam gedanklich in Potsdam angekommen, hat neue Freunde gefunden - Musiker aus der Ukraine -, war im Park Sanssouci unterwegs. In der Kirchengemeinde fühlt sie sich aufgefangen "wie in einer Familie". Und sie ist dankbar, dass sie jeden Tag in der Nikolaikirche spielen kann.

Nadiya Velychko spielt das "Potsdam Requiem" am Jahrestag der Bombardierung Potsdams

Am Samstag (26. 3.) um 20 Uhr ist sie dort mit Alisa Razmolodina (Mezzosopran), Sängerin am Opernhaus Charkiv, und Kateryna Suprun (Viola) zu erleben. Alle drei sind wegen des Krieges nach Potsdam geflohen. Neben dem Nikolaichor sind auch Sänger:innen anderer Potsdamer Chöre eingeladen, sagt Kantor Wiede. Es gehe um das gemeinsame Musizieren. Gespielt werden klassische und moderne Werke ukrainischer Komponisten wie Mykola Kolessa, Lessja Dytschko und Myroslaw Skoryk, aber auch Werke von Bach, Mendelssohn und Chopin. Die Einnahmen will die von Wiede geleitete Brandenburgische Bach-Gesellschaft ukrainischen Künstler:innen zugutekommen lassen.

Anfang April ist ein Konzert in der Berliner Taborkirche geplant, auch in Potsdam wird Nadiya Velychko wieder spielen. Ein besonderer Abend wird der 14. April in der Nikolaikirche, wenn an die Bombardierung Potsdams durch die Alliierten im Jahr 1945 erinnert wird – mit dem von Wiede für diesen Anlass komponierten und vor neun Jahren uraufgeführten "Potsdam Requiem". Dieser symbolische Moment ist auch für die 47-Jährige besonders wichtig: „Ich werde ein kleiner Teil der Potsdamer Geschichte sein“, sagt sie.

Hoffnung auf ein Wiederaufblühen des Landes nach dem Krieg

Auch wenn Deutschland im Zweiten Weltkrieg der Aggressor war und den alliierten Bomben auf Potsdam, Dresden und andere Städte der Holocaust und unzählige deutsche Kriegsgräuel vorangingen, sieht die Lwiwer Organistin auch Parallelen zwischen der Ukraine und Deutschland – und Anlass zur Hoffnung. „Es ist so beeindruckend zu sehen, wie in Deutschland die Städte nach dem Krieg wieder aufgebaut wurden. Ich hoffe, dass die Ukraine nach dem Krieg auch eine Wiedergeburt erlebt und erneut blüht.“

Sie sei sehr stolz auf ihre Landsleute. Wegen des Krieges sei das Land geeint wie nie zuvor. Hätte es vorher Menschen gegeben, die eher Russland zugeneigt waren und solche, die eine Annäherung an die Europäische Union befürworten, seien nun alle für die Anbindung an Europa. „Ich bin überzeugt, dass die Ukraine dem russischen Angriff standhalten kann.“

Benefizkonzert am 26. März 2022 in der Nikolaikirche auf dem Alten Markt. Beginn ist um 20 Uhr. Der Eintritt ist frei, um Spenden zugunsten ukrainischer Künstler:innen wird gebeten.

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