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Vier Glasstelen erinnern an die Opfer der Gewalttat.

© Andreas Klaer

Gedenken ein Jahr nach Gewalttat im Oberlinhaus: Vier Stelen erinnern an die Opfer

Mit einem öffentlichen Gottesdienst hat das Oberlinhaus am Donnerstag der vier Bewohner gedacht, die vor einem Jahr von Pflegekraft Ines R. ermordet wurden.

Potsdam - Sie leuchten in lebendigen Farben. Rot, Orange, Gelb, Grün, Himmel- und Meeresblau. Vier Glasstelen im Kolorit eines Regenbogens stehen vor der Babelsberger Oberlinkirche. Alle miteinander verbunden und doch jede Stele etwas anders in Farbverlauf und Höhe. So individuell, wie die Menschen waren, deren Namen, Geburts- und Todesjahre darauf eingraviert sind: Lucille H. 1978-2021, Martina W. 1990-2021, Christian S. 1985-2021, Andreas K. 1964-2021. 

Alle vier waren nach Unfällen oder von Geburt an schwerstbehindert. Sprechen konnten sie nicht, aber zeigen, was ihnen gefällt. Jeder auf seine Art. Lucille H. mochte die Toten Hosen, Christian S. leise Musik in Moll. Martina W. liebte es, wenn man ihre Hand hielt. Andreas K. reckte den Daumen nach oben, um zu zeigen: Alles okay.  

Am 28. April 2021 wurden sie gewaltsam aus dem Leben gerissen. Die Stelen, die an sie erinnern, werden künftig dem Ort zugewandt stehen, in dem diese vier Menschen starben: dem Thusnelda-von-Saldern-Haus auf dem Babelsberger Oberlingelände. Ihrem Zuhause, in dem sie Opfer einer Gewalttat wurden, die Potsdam, ganz Deutschland erschüttert hat. Jenem Wohnheim für Menschen mit Schwerst- und Mehrfachbehinderungen, in dessen sicher geglaubte Obhut ihre Angehörigen sie gegeben hatten – und wo sie am Donnerstag vor einem Jahr von der langjährigen Pflegekraft Ines R., selbst Mutter eines behinderten Sohnes, in ihren Betten mit einem Messer ermordet wurden. 

Eine weitere wehrlose Bewohnerin des Hauses, Elke T., überlebte den brutalen Angriff schwerverletzt. Am Donnerstag gedachten rund 200 Bewohner und Mitarbeiter des Oberlinhauses, Angehörige, Anwohner sowie Gäste aus Politik, Gesellschaft und Kirche in einem öffentlichen Gottesdienst vor der Oberlinkirche der Opfer der Bluttat.  

Der Gottesdienst fand unter freiem Himmel statt.
Der Gottesdienst fand unter freiem Himmel statt.

© Andreas Klaer

Bewohner begrüßen das klare Gerichtsurteil 

Wie weiterleben nach so einem erschütternden Erlebnis? Die große Anteilnahme habe geholfen, die Trauer zu bewältigen, sagt Rollstuhlfahrer Michael Göbel, der im Thusnelda-von-Saldern-Haus wohnt. „Schön war das Blumenmeer vor dem Haus“, erinnert er sich. Und die Verbundenheit bleibt: Der Polizist, der am Abend des 28. April 2021 als erster am Tatort eintraf, war am Jahrestag vorbeigekommen und brachte vier Rosen mit. 

Auch die Angehörigen der Opfer, die während des Gottesdienstes zum Schutz ihrer Privatsphäre nicht an exponierter Stelle saßen, hätten weiter den Kontakt gehalten, sagt Göbel. Päckchen mit Tee und Stollen seien abgegeben worden. „Wir wussten, die anderen denken an uns.“ Wichtig für einige Bewohner sei auch gewesen, dass das Urteil des Landgerichts gegen Ines R. im Dezember so klar und deutlich gewesen sei: 15 Jahre Haft und Einweisung in die Psychiatrie. „Wir wussten: Die Täterin kommt nicht mehr zurück“, beschreibt Michael Göbel die Gedanken und Gefühle der Bewohner. 

Woidke fordert Aufarbeitung der Ursachen 

Ministerpräsident Dietmar Woidke (SPD).
Ministerpräsident Dietmar Woidke (SPD).

© Andreas Klaer

In den ersten Tagen nach der Tat sei verzweifelt nach Antworten vor allem auf diese eine Frage gesucht worden, machte Brandenburgs Ministerpräsident Dietmar Woidke (SPD) bei seiner Ansprache deutlich: „Hätte diese Gewalttat verhindert werden können?“ Die vier leeren Rollstühle, die beim Gedenkgottesdienst vor einem Jahr in der Nikolaikirche sinnbildlich für die Getöteten im Altarraum standen, seien ihm wie eine Anklage der Opfer erschienen: „Wo waren im Moment der Tat alljene, die versprochen hatten, uns zu schützen?“ 

Auch wenn der Fall juristisch abgeschlossen sei, müsse die Aufarbeitung weitergehen. Die Gesellschaft müsse nach einem solchen Verbrechen nach Ursachen fragen und die Umstände aufklären, die eine derartige Straftat begünstigt haben könnten. 

Schubert: Das Vertrauen muss wieder aufgebaut werden 

Die Tat sei „für jeden einzelnen von uns ein Angriff auf unser Selbstverständnis“, sagte Oberbürgermeister Mike Schubert (SPD). Dabei sei das Vertrauen darauf zerstört worden, „dass die Verletzlichsten unserer Gemeinschaft sich auf uns verlassen können“. Das verlorene Vertrauen müsse wieder aufgebaut werden. Zugleich rief er dazu auf, denjenigen, die täglich in der Einrichtung arbeiten, Hochachtung entgegenzubringen.  

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Oberlin hat einen Gewaltschutzbeauftragten eingesetzt 

„Diese unvorstellbare Tat gehört nun zu unser aller Geschichte und wir werden sie nicht verschweigen“, betonte Tina Mäueler, Bereichsleiterin Wohnen bei Oberlin, im Gottesdienst. Der diakonische Träger hat eine Expertenkommission mit Vertretern von Verbänden, Trägern, Wissenschaft, Lehre und Justiz eingesetzt, die die Rahmenbedingungen in der Eingliederungshilfe und die Umsetzung des Bundesteilhabegesetzes diskutieren soll. Es gehe um Fragen der Personalaufstellung, der Ausbildung, aber auch der Finanzierung von Pflege. 

Erste Zwischenergebnisse sollen im Spätherbst vorliegen. Zudem habe das Haus laut Mäueler einen Gewaltschutzbeauftragten eingesetzt, an den sich Bewohner, Angehörige und auch Mitarbeiter wenden können. Es brauche aber politischen Willen, um die Teilhabe von Menschen mit Behinderung zu verbessern. Sie sei voller Hoffnung, dass sich nun auf Entscheiderebene etwas bewege. 

Regenbogen als Zeichen der Hoffnung 

Der Regenbogen, der die gemeinsam mit den Angehörigen entworfenen Stelen ziert, hatte in den Tagen nach der Tat eine besondere Bedeutung als Zeichen der Hoffnung bekommen, erklärt Oberlin-Pfarrer Matthias Amme. Über dem Thusnelda-von-Saldern-Haus war ein Regenbogen zu sehen gewesen. Ein Nachbar fotografierte das Farbenspiel am Himmel, schickte das Bild an die Oberliner mit der Botschaft: „Wir grüßen euch!“ 

Am Donnerstagabend pusten die Besucher zum Abschluss des Gottesdienstes Seifenblasen Richtung wolkenlosen Himmel, schillernd in den Farben eines Regenbogens. Aus Verzweiflung sei Trauer, aus Trauer Hoffnung geworden, beschreibt der theologische Vorstand des Oberlinhauses, Matthias Fichtmüller den Abschluss dieses Trauerjahres. 

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