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Wendeproteste. Anhänger der Sozialdemokratischen Partei (SDP) demonstrierten 1989 in der Brandenburger Straße.

© M. Utech

Forschung zur Wendezeit in Potsdam: „Geschichte ist kein Wunschkonzert“

Die ZZF-Forscher Jutta Braun und Peter Ulrich Weiß sprechen im PNN-Interview über Fehler in ihrem Potsdamer Wendejahre-Buch „Im Riss zweier Epochen“, über die Kritik von Zeitzeugen und die Gefahren beim Betreten von historischem Neuland.

Von Peer Straube

Frau Braun, Herr Weiß, Ihr neues Buch „Im Riss zweier Epochen“, das sich mit der Potsdamer Wendezeit auseinandersetzt, steht stark in der Kritik. Es wimmelt von sachlichen Fehlern, die man bei Forschern einer so renommierten Einrichtung wie dem Zentrum für Zeithistorische Forschung (ZZF) nicht erwarten dürfte. Wie konnte es dazu kommen?

BRAUN: Dass es von Fehlern wimmelt, stimmt nicht. Es ist mir ein bedauerlicher Fehler passiert, das ist eine falsche biografische Angabe in einer Fußnote zu Jochen Wolf, dem ehemaligen brandenburgischen Bauminister...

...den sie irrtümlich für seit mehr als zehn Jahren tot erklärt haben, obwohl er noch lebt. Peinlich.

BRAUN: Hier lag eine Verwechslung vor. Sie ist für die Argumentation im betreffenden Abschnitt aber völlig unerheblich, denn darin ging es nur um sein Wirken während und nach der friedlichen Revolution. Das Kapitel habe ich bereits vor mehreren Jahren geschrieben. Es ist sehr bedauerlich, dass das geschehen ist und wir versuchen derzeit auch, Kontakt zu Herrn Wolf zu bekommen, um uns bei ihm zu entschuldigen.

Es gibt aber auch andere Fehler, etwa ein Foto, das verfallende Altbauten angeblich in der Gutenbergstraße zeigt, auf dem tatsächlich aber die Hermann-Elflein-Straße abgebildet ist.

BRAUN: Das Foto war leider bereits auf der Quelle falsch beschriftet. Zudem zeigt der Bildausschnitt ein Haus, das wenige Meter von der Gutenbergstraße entfernt liegt.

WEISS: Das Buch ist 540 Seiten lang und enthält eine Fülle ganz unterschiedlicher Informationen von verschiedensten Quellen. Wir haben Akten und Medien ausgewertet, Interviews geführt und mit Zeitzeugen gesprochen. Dabei passieren auch Fehler, was nicht ungewöhnlich ist. In der Forschungslandschaft sind überarbeitete zweite Auflagen gang und gäbe. Die Frage ist, wie man mit Fehlern umgeht. Wir werden alle diesbezüglichen Informationen sammeln und auswerten. Wo ein Irrtum auftaucht, wird er natürlich in der zweiten Auflage korrigiert. Das ist der Weg, den man in solch einem Fall einschlägt.

Mit welchem Ziel haben Sie dieses Buch geschrieben?

BRAUN: Wir wollten die Zusammenhänge der friedlichen Revolution in Brandenburg am Beispiel Potsdams darstellen. Unser historischer Blick auf die Stadt sollte hierbei eine Tiefe und Weite haben, wie es sie bislang noch in keiner Publikation zu Potsdam gab. Unser Anliegen war es hierbei, zum einen die Vorgeschichte dieser Revolution zu erzählen – mit all den Institutionen und Gruppen, die daran beteiligt waren. Zudem wollten wir erstmals in einer Forschungspublikation überhaupt auch die Jahre nach dem Umbruch in den Blick nehmen, den Wandel und den Aufbau demokratischer Strukturen.

Welche Quellen haben Sie dafür genutzt?

BRAUN: Neben der üblichen staatlichen Überlieferung im Bundes- und Landesarchiv und der des MfS in der Stasiunterlagen-Behörde wollten wir auch möglichst viele Akten von Potsdamer Institutionen nutzen. Das ist uns mal besser und mal schlechter gelungen. Die damalige Hochschule für Film und Fernsehen „Konrad Wolf“ etwa hatte laut eigener Auskunft praktisch gar kein Material mehr, dafür gab es ein exzellentes Archiv zu Inszenierungen des Hans Otto Theaters bei der Akademie der Künste in Berlin. Zudem haben wir viele private Aufzeichnungen ausgewertet. Und wir haben mit sehr vielen Zeitzeugen gesprochen, aus allen gesellschaftlichen Bereichen.

WEISS: Wir zeigen, dass nicht das Wirken einzelner Gruppen für den Revolutionsausbruch verantwortlich war, sondern die Gesamtsumme vieler Faktoren und Akteure. Sie löste eine Bewegung aus, die plötzlich Tausende Menschen in Potsdam zu Demonstrationen und zum friedlichen Widerstand trieb. Natürlich muss das dann in solch einem Buch verdichtet werden, was mitunter zu Auslassungen führt. Das kann – biografisch nachvollziehbar – auch zu Widerspruch von Zeitzeugen führen, wenn diese die Rolle ihrer jeweiligen Gruppe oder Institution als unterrepräsentiert wahrnehmen.

Konflikte zwischen Zeitzeugen und Wissenschaftlern sind nicht selten. In Potsdam ist der Streit um das frühere KGB-Gefängnis in der Leistikowstraße noch gut in Erinnerung. Meist geht es um die Deutungshoheit über die Geschehnisse. Wie gehen Sie mit diesem Thema um?

BRAUN: Anders, als man es vielleicht erwarten würde, gibt es nicht allein einen Kontrast zwischen den Sichtweisen von ehemaligen Protagonisten der Revolution und ehemaligen Systemträgern. Vielmehr existieren auch konkurrierende Deutungen zwischen den Angehörigen verschiedener oppositioneller Kreise, die ihren Anteil an den Ereignissen jeweils stärker gewichtet sehen wollen als den der anderen. Wir haben den Versuch einer Gesamtschau gemacht. Im Übrigen wird kein ernstzunehmender Wissenschaftler eine Deutungshoheit beanspruchen. Wir machen Interpretationsangebote, die man annehmen oder ablehnen kann.

Historiker müssen sich auf Akten stützen, in diesem Fall auch auf Berichte von Stasi-IMs. Wie groß ist das Risiko, dass Fehler, die von den Informanten gemacht wurden, sich auch in eine wissenschaftliche Publikation einschleichen?

WEISS: Das Risiko besteht. Deshalb ist man als Historiker gehalten, hier besonders aufmerksam und kritisch zu lesen. Doch das Wissen darum schützt nicht immer. So stand ein im Kapitel zur Subkultur aufgeführter Bandname bereits falsch in einer Akte. Glücklicherweise spielt dies für den beschriebenen Sachverhalt im Buch keine Rolle. Dort geht es um Jugend- und Subkultur als politischer Faktor in Potsdam. Das ist für das Ende der DDR kaum bekannt. Selbst viele oppositionelle Zeitzeugen wussten nichts davon, weil sie sich nicht in diesen Kreisen bewegt haben.

Dennoch leidet ja die Glaubwürdigkeit des Werks zwangsläufig unter solchen Fehlern. Wie wollen Sie sie wiederherstellen?

WEISS: Das sehe ich überhaupt nicht. Wir unterstellen dem aufgeschlossenen Leser, sich für die Grundaussagen und den analytischen Gehalt des gesamten Buches zu interessieren. Das Buch enthält eine Fülle von Thesen und Befunden. Darin steckt doch die Essenz! Und nicht in der Frage, ob der Name einer Band von der Stasi korrekt mitgeschrieben wurde.

Trotzdem haben Ihnen Zeitzeugen wie der Bürgerrechtler Manfred Kruczek eine gewisse Einseitigkeit der Darstellung vorgeworfen. Wie gehen Sie mit dieser Kritik um?

BRAUN: Das überrascht uns, da in unserem Buch alle oppositionellen Kräfte eingehend gewürdigt werden und insbesondere die Kirchen und kirchlichen Gruppen eine immens breite Darstellung erfahren haben. Zeitzeugen möchten ihre eigenen Erfahrungen und Erinnerungen möglichst breit gespiegelt sehen. Allerdings ist Geschichte kein Wunschkonzert. Unsere Aufgabe ist es, die Befunde und höchst unterschiedlichen Sichtweisen zahlreicher Personen entsprechend unserer Fragestellung zu gewichten und einzuordnen. Daraus entsteht unser Interpretationsangebot. Dass es anschließend zu Diskussionen kommt, ist völlig normal und Teil des gesellschaftlichen Verständigungsprozesses, zu dem Geschichtsschreibung beiträgt.

WEISS: Das Interesse an unserem Buch freut uns, und wir werden die Diskussionen fortführen. Immerhin geht es ja auch darum, überhaupt ein Gespräch in Gang zu setzen. Forschungen zu Brandenburg in jener Zeit sind etwa im Vergleich zu Sachsen und Thüringen noch immer sehr gering.

Woran liegt das?

BRAUN: Das ist eine gute Frage...

...weil Brandenburg noch immer als „kleine DDR“ gilt?

BRAUN: Das würde ich nicht unbedingt sagen. Zunächst einmal liegt die Auswahl des Themas ja an den Interessen der Forscher, so war das auch bei uns. Vor zwei Jahren haben wir ja schon zur friedlichen Revolution in Brandenburg publiziert. Es lag nahe, sich dann auch mit Potsdam als Zentrum dieser Entwicklung auseinanderzusetzen. Es gibt zwar viel lokale Geschichtsforschung, aber es ist eben Aufgabe von Historikern, sie in einen größeren Kontext zu stellen.

Sie wollten mit Ihrem Buch in eine Forschungslücke stoßen. Ist es Ihnen gelungen, diese auch zu schließen?

BRAUN: Das Buch bietet einen wichtigen Überblick für all jene, die sich für die damaligen Ereignisse und Entwicklungen interessieren. 27 Jahre nach der friedlichen Revolution war es sicher auch nicht übertrieben früh, sich damit zu beschäftigen. Es geht ja auch Wissen verloren, wenn keine Geschichtsforschung stattfindet.

WEISS: Das Buch erzählt, wie in Großstadtgesellschaften besondere Dynamiken entstehen, die systemstürzend werden. Abgesehen von Leipzig und Dresden ist das speziell für die DDR-Bezirksstädte bislang kaum untersucht worden. Diese waren ja nicht nur vielfach regionale Zentren der Opposition, sondern vor allem Sitz des mächtigen Partei- und Staatsapparates im Bezirk und damit Schaltzentralen der Macht im Territorium. Als diese versagten, strahlte das auch ins Umland aus. Das zu thematisieren, war uns wichtig. Auch den Ansatz, die Entwicklungen der Folgejahre zu berücksichtigen, hat es noch nicht so oft gegeben. Für viele Bereiche, etwa in der Wirtschaft, Kultur oder Wissenschaft, erfolgte ja nicht 1989 der unmittelbare Bruch, sondern in den Jahren danach, als die Betriebe und Einrichtungen abgewickelt oder umstrukturiert wurden. Unser Buch zieht aber keinen Schlussstrich. Jeder Deutungsversuch wirft neue Fragen auf. Wie die Geschichte selbst, geht auch Geschichtsschreibung immer weiter.

Die Fragen stellte Peer Straube

ZU DEN PERSONEN:  Jutta Braun, Jahrgang 1967, war von 1999 bis 2009 Dozentin an der Universität Potsdam. Seit 2010 arbeitet sie am Zentrum für Zeithistorische Forschung (ZFF) mit den Forschungsschwerpunkten deutsche Teilung, politische Justiz und Transformation. 

Peter Ulrich Weiß, geboren 1970, hat in Potsdam, Paris und Bukarest Geschichte und Romanistik studiert. Am ZZF hat er unter anderem zur Geschichte der kommunistischen Regime in Rumänien und der DDR publiziert.

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