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Clara Schramm aus Potsdam ist seit ihrer Geburt blind.

© Andreas Klaer,PNN,Tsp

Clara Schramm ist seit der Geburt blind: „Wenn ich träume, ist es wie ein Hörspiel“

Die 23 Jahre alte Babelsbergerin spricht anlässlich des Sehbehindertentags am Pfingstmontag über ihren Alltag und ihre Botschaft an sehende Menschen.

Clara, Du bist 23 Jahre alt und seit Deiner Geburt blind. Wie kam das?
Ich habe einen Zwillingsbruder und wir wurden in der 26. Woche geboren und mussten intensiv behandelt werden, im Inkubator. Durch die Sauerstoff-Behandlung hat sich bei mir die Netzhaut abgelöst. Mein Bruder Max hat nur eine leichte Sehbeeinträchtigung.

Aber Ihr habt beide überlebt.
Ja, und blind zu sein ist immer noch besser als schwerst-mehrfach behindert im Rollstuhl zu sitzen.

Du kennst es auch nicht anders.
Ich bin so geboren und musste mich nie umgewöhnen.

Ist das für Dich ein Vorteil? Oder hättest Du es gerne anders erlebt?
Ich glaube, es ist ein Vorteil. Wenn du erst später erblindest, wenn du plötzlich gar nichts mehr siehst, ist das wie ein Schicksalsschlag. Klar, du weißt ungefähr wie Farben aussehen und hast ein räumliches Vorstellungsvermögen, kannst dir Dinge besser vorstellen, die nur visuell zu begreifen sind, aber eigentlich finde ich es besser, so wie es jetzt ist.

Für uns Sehende hat fast jede Vorstellung von etwas immer etwas Visuelles. Was passiert, wenn Du Dir was vorstellst?
Wenn ich was träume, ist das wie ein Hörspiel, das abläuft. Ich höre die Stimme von den Personen, um die es geht, ich spüre ihre Anwesenheit.

Wie war das für Dich früher, mit Deinem Bruder zusammen, der ja sehen kann. Woran erinnerst Du Dich?
Wir waren zusammen im Kindergarten und das war echt schön. Wir haben viel zusammen gemacht. Er hat für mich geguckt, ich habe für ihn gesprochen. Er war ziemlich schüchtern. Er hat sich nicht getraut, auf andere zuzugehen und sie was zu fragen, und das habe ich dann übernommen. Wir haben uns gut ergänzt. Dann bin ich in die Grundschule gekommen, unter Sehende. Ich hatte eine Schulhelferin, eine Sonderpädagogin, die mir das Lesen und Schreiben beigebracht hat.

Clara Schramm mit ihren Brüdern Max (l.) und Johann.
Clara Schramm mit ihren Brüdern Max (l.) und Johann.

© Andreas Klaer

Gibt es eine Blindenschrift oder mehrere?
Es gibt nur eine in deutscher Sprache, die habe ich gelernt, sowie eine englische und eine deutsche Kurzschrift. Da steht ein Buchstabe für mehrere Zeichen, damit man Platz spart.

Ich kenne ja nur das, was auf den Apothekenpäckchen draufsteht, was ist das?
(Lacht) Das nennt man Vollschrift.

Könnte man diese Zeichen auch für englische Wörter nehmen?
Ja, die Brailleschrift gilt auch im Englischen. Bei Kurzschrift gilt: Für englische Wörter gibt’s eine andere, die konnte ich auch, aber die habe ich vergessen.

Brauchst Du zum Schreiben immer ein besonderes Gerät?
Nein, ich kann mittlerweile am Computer schreiben, mit zehn Fingern tippen.

Und der Computer liest Dir vor, was Du schreibst?
Ja, das ist ein Computer mit Sprachausgabe. Ich habe auch ein Handy mit Sprachausgabe. Ich benutze den Touchscreen.

Woher weißt Du Denn, wo Du da bist?
Das wird mir angezeigt, Informationen werden angesagt. Die Bedienungsgesten sind entsprechend anders. Wenn ich eine Nachricht schreiben will, diktiere ich sie. Gut, dass es Handys gibt. 2010 kam das erste richtig gute iPhone raus.

Zurück zur Grundschule. Das war also eine normale – ich weiß gar nicht, ob ich das so sagen darf.
Ja, das heißt so, für normal Sehende. Da habe ich die 6. Klasse gemacht, dann die 7. Klasse an einer Gesamtschule unter normal Sehenden, aber ab einem Punkt brauchte ich mehr Hilfe, da musste ich auf eine Blindenschule. Eineinhalb Jahre war ich in Marburg, aber das war nicht das Richtige für mich. Ich glaube, ich war zu jung für ein Internat. Dann habe ich auf einer Schule in Steglitz meinen Realschulabschluss gemacht. Dafür habe ich lange gekämpft.

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Was war besonders schwierig?
Mathe. Das war für mich das Allerschlimmste.

Weil Du blind bist oder unabhängig davon?
Sowohl als auch. Bei der Abschlussarbeit gab es so blöde Textaufgaben wie: der Swimmingpool aus der Vogelperspektive und davon dann die Tiefe berechnen – wer braucht sowas? Abgesehen davon kann ich mir das nicht richtig vorstellen.

Prüft das vorher niemand, ob diese Aufgaben für Dich überhaupt in Frage kommen?
Doch, aber es musste halt sein. Meine Lehrerin hat mir das im Medienzentrum der Schule mit einem 3-D-Drucker ausgedruckt. Das war mein Glück. Also wenn die in der Prüfung nicht neben mir gesessen hätte – ich weiß nicht. Bilder visuell ertasten, das ist für mich ganz schwer.

Bilder ertasten – zum Beispiel wie bei den Stadtmodellen für Blinde?
Genau. Das funktioniert für mich nicht.

Was funktioniert für Dich, um Dir etwas räumlich vorzustellen, gibt es da eine Methode? Oder brauchst Du das einfach nicht? Diese räumliche Perspektive?
Es interessiert mich nicht so wirklich, aber ich weiß, dass ich das lernen muss. Wenn mir jemand ein Haus oder Zimmer zeigt, dann gehe ich das ab, aber ich brauche mehrere Anläufe, damit ich mir das merken kann.

Aber Du hast nicht das Bedürfnis, das zu verstehen.
Nein, obwohl ich weiß, dass das nützlich für mich wäre.

Wir denken oft, jemand kann nicht sehen, also muss er das mit irgendwas kompensieren. Aber das musst Du vielleicht gar nicht?
Naja, es wäre halt schon wichtig, aus praktischer Sicht.

Es steckt ja auch eine Menge wertvoller und schöner Information drin, in dem, was man sieht. Ich nehme Euer Haus mit seiner Architektur, seiner Farbe und Größe wahr, ich sehe den wunderschönen Garten mit den blühenden Rosen …
Die Rosen wurden für mich gepflanzt, das sind Duftrosen. Sie riechen richtig schön, daran erkenne ich immer unseren Garten.

Aber Du könntest niemandem beschreiben, wie dein Haus aussieht.
Nein.

Und das ist dann eben so.
Ja. Ich kann sagen, dass es groß ist, dass es einen Dachboden hat, einen Keller, das Übliche halt, aber von den Farben her – das geht nicht.

Wie verstehst Du Maße und Entfernungen?
Über Schritte. Aber oft muss ich fragen, wie groß oder weit etwas ist. Da helfen vergleichbare Punkte. Beim Autofahren, wenn ich die Strecke häufig fahre, weiß ich meistens, wo wir sind, ob wir noch einen Umweg machen oder so. Dass wir wieder in Babelsberg sind, erkenne ich, wenn wir durch die Straße Alt Nowawes fahren, die mit dem Kopfsteinpflaster.
Wie ging es nach der Zehnten weiter?
Ich bin nach Nürnberg gegangen, an eine Berufsfachschule für Musik, für Blinde und Sehbehinderte. Da wohne ich in einer WG mit anderen Blinden und Sehbehinderten und Erziehern. Ich singe gerne und das Praktische liegt mir, nur die Musiktheorie fällt mir schwer. Leider wird die Schule jetzt geschlossen, ich kann die Ausbildung nicht beenden und bin am Suchen, wie es weitergeht, beruflich.

Worauf hättest Du Lust?
Ich würde gerne was mit Schauspiel machen, aber Mama sagt, ich soll was Vernünftiges lernen. Dabei habe ich schon einmal in einem Film mitgemacht. Das war 2017 in einem Spielfilm im ZDF über ein Mädchen, das von zu Hause abhaut zu ihrer blinden Cousine, die in einem Blindenwohnheim lebt. Die habe ich gespielt. Die Blinde sagt, okay, du kannst hier bleiben, aber du musst so tun, als wärst du blind.

Da könnten wir doch einfach den Film gucken, um mehr über Menschen wie Dich zu erfahren!
Ja genau! Guck Dir den an. Der heißt „Blind und hässlich“. Ich habe den Publikumspreis als beste Hauptdarstellerin gewonnen. Das war total toll, das hat mir Spaß gemacht.

Was wäre denn ein sogenannter richtiger Beruf für Dich? Gibt es typische Berufe für Sehbehinderte?
Ich könnte mir für mich was Soziales oder Therapeutisches vorstellen.

Physiotherapeutin?
Nein, da muss ich Menschen anfassen. Das mache ich nicht so gerne.

Die Welt ist voll mit Menschen, die sehen können, und dann gibt es ein paar, die nicht sehen können. Und dann kommen wir zusammen. Wie sollen wir uns benehmen? Soll ich Dir die Hand geben? Soll ich Dich ansprechen, wenn ich Dich treffe, oder wäre das aufdringlich?
Nein, gar nicht. Blöd ist nur, wenn die Person nur „Hallo Clara“ sagt, aber nicht, wer sie ist. Manche können sich einfach nicht vorstellen, wie das ist, wenn man nicht die Gesichter sieht und dann nicht weiß, wer einen da gerade anspricht.

Was machst Du in so einem Fall, hast du einen Spruch, den Du zurückfragst?
Nein, man kommt sich so blöd vor, ich will nicht, dass jemand beleidigt ist.

Möchtest Du, dass Dir jemand auf die Schulter klopft oder Dich umarmt? Auch damit Du jemanden erfühlen kannst?
Nein, umarmen mache ich von mir aus, wenn ich das möchte.

Möchtest Du denn nicht wissen, ob jemand groß oder klein, dick oder dünn ist?
Das ist mir egal.

Ist das ein Unterschied zu Menschen, die schon mal sehen konnten?
Ich glaube schon.

Wie kannst Du fremde Menschen einschätzen?
Nach der Stimme und ihrem Auftreten. Ist jemand nett oder distanziert, das nehme ich schnell wahr.

Macht Dir etwas Angst?
Wenn Menschen laut sind und rumschreien. Neulich waren besoffene Fußballfans im Regionalzug, da haben wir das Abteil gewechselt. Die waren nicht gefährlich, aber für mich war das sehr laut. Und ich kann dann nicht einschätzen, wie die drauf sind.

Wie findest Du am Bahnsteig eigentlich den richtigen Zug? Du bist ja sehr selbstständig und viel unterwegs.
Welcher Zug oder welche S-Bahn das ist, das wird durchgesagt oder ich frage mich durch. Oft werde ich von Leuten gefragt, ob ich Hilfe brauche. So zu fragen, das ist ok. Aber bitte nicht einen am Arm packen und irgendwo hinschleppen, das geht gar nicht. Bei der Bahn gibt es übrigens Umsteigehilfen. Das sind Leute, die dich auf dem Bahnhof von einem Zug abholen und zum anderen bringen. Das funktioniert sehr gut.

Clara Schramm beim Klavierspielen.
Clara Schramm beim Klavierspielen.

© Andreas Klaer

Wie bist Du unterwegs, benutzt du einen Stock?
Genau, einen Blindenlangstock. Wenn ich mich auskenne, bin ich damit richtig schnell unterwegs, da geht’s zackzack. Ich habe eine Bekannte, die geht ohne Stock. Weil sie sich dafür schämt, aber ich sage, das ist doch Quatsch, wir sind nun mal drauf angewiesen. Es kann ohne Stock auch ziemlich gefährlich sein. Ich habe auf jeden Fall immer einen Stock dabei, das ist einfach sicherer.

Wie ist das, wenn Dich dann jemand unterhaken will beim Laufen?
Ich hake mich dann unter, wenn ich das will.

Trägst Du ein Sehbehinderten-Abzeichen oder eine Armbinde?
Nein, das brauche ich nicht. Ein Stock reicht völlig aus, damit die Leute uns sehen. Ohne Stock würde ich angerempelt werden, mit Stock gehen einem sofort alle aus dem Weg. Außer natürlich Leute, die nicht aufpassen, die auf ihr Handy gucken oder so.

Gehst Du ab und zu aus, in ein Café? Unternimmst Du was?
In Nürnberg ja. Hier weniger, meine Freunde sind in ganz Deutschland verteilt. In Berlin war ich vor kurzem mit einem Freund bei einem Rapkonzert, da mussten wir erst die U-Bahn nehmen und dann laufen, und wir mussten uns echt beeilen, aber wenn ich irgendwas will, dann bin ich schnell unterwegs.

Wie ist es zu Hause, wo Du Dich auskennst? Muss immer alles am selben Ort bleiben?
Wäre ganz gut, ja (lacht).

Gibt es Regeln in Eurem Haushalt? Nichts rumstehen lassen und so?
Ja, so ein paar. Schuhe müssen am Schuhregal stehen, nicht mitten im Weg. Immer die Schränke zumachen, damit ich nicht dagegen renne. Umräumen muss auch nicht sein, vor allem nicht in meinem Zimmer, wenn ich nicht da bin. Wenn im Haus was umgeräumt wird, sagen meine Eltern es mir. Außer als sie letztens die Cornflakespackung umgestellt haben. Plötzlich war die in einer Schublade – dabei stand die stand doch gut da, wo sie war, ist doch egal, wie es aussieht!

Kannst Du selber kochen?
Ja, aber es ist eher schwierig. Salat zubereiten geht leichter, das kann ich.

Wie kaufst Du für Dich Kleidung ein?
Das mache ich mit Mama, die hat einen guten Geschmack und ich vertraue ihr. Meistens besorgt sie Sachen, die man fühlen kann, die eine Struktur haben, T-Shirts mit Perlen und Pailletten. Und Sachen, die man mit allem kombinieren kann.

Wie wichtig ist es Dir, gut auszusehen?
Ich will schon gut aussehen, aber ich bin nicht verrückt nach der neuesten Mode. Ich lasse mir nicht stundenlang am Schaufenster Klamotten beschreiben. Aber was ich gerne mache, ist in eine Parfümerie gehen. Da könnte ich mich stundenlang aufhalten. Meine Freunde sagen, wie kannst du das da drinnen aushalten, aber es ist einfach so schön, da zu stehen und sich beraten zu lassen. Ich liebe Parfum. Gerüche sind wichtig für mich. Frühling und Sommer, wenn alles blüht und duftet, das sind meine liebsten Jahreszeiten.

Die 23-Jährige liebt schöne Düfte.
Die 23-Jährige liebt schöne Düfte.

© Andreas Klaer

Gibt es Dinge, die Du besser kannst als wir Sehenden?
Ich kann gut schmecken, Gewürze herausfinden. Mal ein Beispiel: Ich mag keinen Sellerie. Dann macht Mama den trotzdem in den Salat. Und wenn sie dann sagt, ich habe alles wieder rausgetan, dann rieche ich, dass der Geschmack trotzdem noch drin ist. Da kann mir keiner was vormachen.

Was ist mit Hören?
Mein Gehör ist gut, das ist besser geschult als bei Sehenden. Mich zu erschrecken, so aus Quatsch, wie das Freunde manchmal machen, das ist schwierig, ich kriege fast immer mit, wenn sich jemand anschleicht. Aber meine Brüder, die haben mich früher trotzdem gerne erschreckt und das voll ausgenutzt, dass ich nichts sehen kann.

Wie ist das mit dem Wort Sehen. Das wird ja oft benutzt, auch automatisch. Man sieht sich, siehst du, sieht gut aus und so weiter. Ist das ok für Dich?
Ja! Viele Leute fragen mich, ob sie das sagen dürfen – aber klar, kein Problem! Auch wir sehen die Welt, aber eben anders. Für mich ist das was völlig Normales. Es gibt Leute, die damit ein Problem haben, aber ich gehöre da nicht dazu.

Was ist Deine Botschaft an uns sehende Menschen?
Bitte geht so normal wie möglich mit uns Blinden um.

Wir neigen dazu, immer schrecklich viel Mitleid mit Euch zu haben.
Ja, aber das ist Quatsch! (leichte Entrüstung). Hat man auch so viel Mitleid mit Rollstuhlfahrern oder Autisten?

Was wünschst Du Dir für Deine Zukunft?
Ich will einfach ein glückliches Leben haben.

Gibt es eigentlich Witze über Blinde?
Klar, den Witz mit dem Mohnbrötchen zum Beispiel, dass da so schöne Kurzgeschichten draufstehen. Aber das ist ein 0815-Witz, da gibt’s bessere. Obwohl Mohnbrötchen ja echt gut schmecken.

Das Gespräch führte Steffi Pyanoe

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