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30 Jahre nach dem Mauerfall: Lachen über den lallenden SED-Mann

Bei einem Zeitzeugengespräch erinnerten sich drei Potsdamer an die Stimmung in den DDR-Betrieben im Herbst 1989.

Potsdam - DDR, September 1989: Die SED bereitet sich auf den 40. Jahrestag der DDR vor, Ungarn hat die Grenze nach Österreich geöffnet, etliche Bürger des sozialistischen Staates reisen aus. Mittendrin ist der Potsdamer Hans-Dieter Rutsch, Regisseur für das Defa-Dokumentarfilmstudio in Babelsberg: Er reist durch die Republik, um Filme über Arbeiter und Bauern zu drehen. „Doch wir mussten verzweifelt dabei zusehen, wie die Arbeiter in den Westen stürmten“, erinnert sich Rutsch. Noch gut erinnert er sich an ein Gespräch zwischen zwei Arbeitern, das sicher nicht den Weg in eine der von der SED gewünschten Dokumentationen gefunden hätte: „Also ich hab mich entschieden: Ich nehm’ einen Kadett“, zitiert Rutsch.

Solche Einblicke in die Zeit kurz vor dem Mauerfall gab es am Donnerstagabend im Potsdam Museum beim Zeitzeugengespräch „Die Friedliche Revolution in Potsdam 1989 – Die Stimmung in den Potsdamer Betrieben“. Mit rund 2300 Mitarbeitern war der VEB Maschinenbau „Karl Marx“ in Babelsberg das größte Industrieunternehmen der damaligen Bezirkshauptstadt, in dem schwere Autodrehkräne produziert wurden. Wolfgang Schütt, Ingenieur für Chemie und Wertstoffkunde, war damals Leiter der Werkstoffprüfung im Karl-Marx-Werk. Angespannt sei die Situation schon vor dem Herbst 1989 gewesen: „Bei der Kommunalwahl am 7. Mai war nachweislich betrogen worden, das hat die bereits bestehende Unruhe in den Betrieben nur verstärkt“, erzählt Schütt.

Dass es mit der DDR wirtschaftlich zu Ende gehen würde, sei aber schon 1980 erkennbar gewesen, als die Staatsführung die Parole „Erfahrungsaustausch ist die billigste Investition“ ausgegeben hatte: „Da merkten wir schon: Aha, wir haben nichts mehr“, sagt Schütt. Er und seine Kollegen machten aus der Not eine Tugend und versuchten aus dem wenigen, was sie hatten viel zu machen. „Manchmal dauerte der Monat dann halt 34 Tage, damit der Plan erfüllt wurde.“

Durch die Glasnost- und Perestroika-Politik von Michail Gorbatschow lockerten sich ab 1986 auch in der DDR nach und nach die Beschränkungen und Repressionen: Besuchsreisen in den Westen wurden öfter bewilligt, kritische Kommentare in den Medien gingen häufiger durch. „Plötzlich gingen Dinge, die vorher nicht gingen“, sagt Rutsch, der 1989 einen Film über den deutschen Kommunisten Max Hoelz drehte, der in der Sowjetunion ermordet worden war – einige Jahre zuvor noch unvorstellbar. „Mein Schwiegervater sagte zu mir: ‚Pass auf, dass du nicht verhaftet wirst.’ Aber ich wusste: Das ist vorbei“, sagt Rutsch.

Dass der Fall der SED so schnell und so unblutig vonstatten gehen würde, hätte er aber nie gedacht, so Rutsch: „Das Jahr 1989 wird aus meiner Sicht heute verniedlicht – das Grundgefühl von 1989 war die Angst vor einem Putsch.“ Regelmäßig diskutierten sich der Filmemacher und seine Kollegen in der Defa-Kantine die Köpfe heiß, was als nächstes passieren könnte: Gibt es Reformen von oben? Entmachtet Egon Krenz Erich Honecker? Übernimmt die NVA die Macht? „Was wir nicht gesehen haben, war die Ermattung der Mächtigen: Niemand wollte zum Grobian oder Königsmörder werden“, sagt Rutsch. Dass es zu einer friedlichen Revolution kommen würde, war auch für Petra Lütche nicht absehbar: Die Ingenieurin arbeitete damals im VEB Meliorationskombinat Potsdam, ihr Vater war Direktor für Technik im Karl-Marx- Werk. „Meine Oma sagte damals: Erst bekommen wir neues Geld und dann gibt es Krieg“, sagt Lütche. Doch es kam anders.

Als Ungarn die Grenzen öffnete, machte sich dies auch im Karl-Marx- Werk bemerkbar: „Es gab Kollegen, die in Urlaub fuhren und wenig später Grüße aus Westdeutschland schickten“, erinnert sich Schütt. Auf dem Gelände des Karl-Marx-Werks spielten sich absurde Szenen ab: Im Vorfeld des 40. Jahrestags der DDR kam ein Wirtschaftssekretär der SED zu Besuch, um eine flammende Rede zu halten. „Es wurde ein Wagen herbeigeholt und ein Treppchen rangestellt, rundherum standen Stasi-Mitarbeiter in Zivil“, erzählt Schütt. Der Parteifunktionär erschien betrunken auf dem Gelände und hielt lallend seine Rede. „Das war eine sehr schöne Lachnummer für das Werk“, sagt Schütt.

Petra Lütche kann sich noch gut erinnern, wie die Stimmung am 11. November, zwei Tage nach der Grenzöffnung war: „Ich habe den Kinderwagen damals von Potsdam-West bis zur Glienicker Brücke geschoben, die ganze Stadt war voller Menschen.“ Zusammen mit Hunderten anderer Potsdamer spazierte sie über die ehemalige Agentenbrücke ungehindert nach West-Berlin. „Das war ein ganz komisches Gefühl – ich hatte Angst, ich komme nicht mehr zurück“, sagt Lütche. Welche Atmosphäre danach im Meliorationskombinat Potsdam herrschte, kann sie leicht beantworten: „Nach der Grenzöffnung war der Betrieb eine Woche lang leer.“

Der Euphorie folgte wenig später Ernüchterung: 1990 wurde das Karl- Marx-Werk in eine GmbH umgewandelt, zwei Jahre später wurde der Betrieb von der Treuhandanstalt abgewickelt.

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