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Bewegte Bilder. Jeanette Toussaint hat zur Geschichte des Babelsberger Thalia-Kinos geforscht. Dabei konnte sie auch das Geburtstagsdatum korrigieren. Jetzt erscheint ihr Buch.

© M. Thomas

100 Jahre Thalia in Potsdam: Boxkampf im Kinosaal

Musikersuche, Propagandaprogramm und eine weibliche Kinochefin: Jeanette Toussaint hat ein Buch über die 100-jährige Geschichte des Thalia geschrieben.

Von Sarah Kugler

Potsdam - An ihr erstes nachhaltiges Kinoerlebnis kann sich Jeanette Toussaint noch gut erinnern: Auf der Potsdamer Freundschaftsinsel hat sie als Teenager den Western „Spiel mir das Lied vom Tod“ in einer Open-Air-Vorstellung gesehen und war begeistert. Die Liebe zum Kino hat sie seitdem nicht verloren. Gerne erinnert sie sich an Vorstellungen im ehemaligen Kino „Charlott“ am Bahnhof Charlottenhof, später im Babelsberger Thalia-Kino. Letzterem hat sich die Potsdamer Autorin und Kuratorin nun auch beruflich genähert: Zum 100. Geburtstag des Babelsberger Thalia-Kinos am 16. Februar erscheint ihr Buch „Kino in der Filmstadt Babelsberg. Hundert Jahre Thalia“. Auf 154 Seiten hat sie darin die Geschichte des Kiezkinos aufgeschrieben – und damit die erste Chronik des Kinos verfasst.

„Von den jetzigen Betreibern hatte nie jemand Zeit, sich darum zu kümmern“, erklärt Toussaint. Tatsächlich sei sie auch mit dem Vorschlag der geschichtlichen Aufarbeitung auf das Thalia-Team rund um Chef Thomas Bastian zugegangen. Zum Thema Kino und überhaupt zur historischen Forschung kam die 52-Jährige über einen längeren Weg: In Potsdam- West aufgewachsen, absolvierte sie zunächst eine Ausbildung als Gärtnerin, dann als Floristin. Politisch interessiert, engagierte sie sich in der Volkssolidarität und holte schließlich nach der Wende ihr Abitur nach. „Als ich das hatte, dachte ich, jetzt kann ich auch noch studieren“, erzählt sie und lacht. Es folgte ein Studium der Ethnologie, Soziologie und Gender Studies. Danach machte sie sich selbstständig, es folgten mehrere Projekte, unter anderem die Ausstellung „Im Gefolge der SS: Aufseherinnen des Frauen-KZ Ravensbrück“ in der KZ-Gedenkstätte Ravensbrück. Im Jahr 2013 war im Thalia die von ihr kuratierte Ausstellung „Vorhang auf – Film ab. Kino und Kindheit im 20. Jahrhundert“ zu sehen. Bereits zwei Jahre zuvor begann sie auch über das Thalia selbst zu forschen – nicht immer eine leichte Aufgabe, wie sie sagt. Über einen Zeitzeugenaufruf suchte sie zunächst nach Informationen und Bildern. Doch die Bildauswahl von Aufnahmen vor der Wende ist dürftig. Insbesondere von der Zeit vor dem ersten Umbau des Kinos im Jahr 1959 hat Toussaint bislang nur ein Foto von einer Kundgebung aus dem Jahr 1935 gefunden. Die Aufnahme stammt aus der Potsdamer Tageszeitung. „Tatsächlich ist das Thalia das Kino mit den wenigsten Innenaufnahmen, obwohl es das älteste in Potsdam ist“, sagt sie.

Allerdings war auch das genaue Eröffnungsdatum lange nicht klar. Zunächst schien der 25. Dezember 1917 naheliegend (PNN berichteten). Toussaint fand eine Anzeige, mit der ein gewisser C. Ammen – der erste Betreiber des Thalia – zu diesem Datum in der Fachzeitschrift „Der Kinematograph“ nach Musikern suchte, die Piano, Geige und Cello spielen können. „Auch Klappstühle und ein Projektor fehlen noch. Es soll ein ,Ernemann Imperator’ sein, der seit 1909 auf dem Markt und bewährt ist.“ So schreibt Toussaint in ihrem Buch. Lange Zeit stand damit der 25. Dezember 1917 als Geburtstag des Thalia fest. Erst kurz vor dem Jubiläum stieß sie in der Potsdamer Tageszeitung auf die Anzeige zur Eröffnung des Thalia – am 16. Februar 1918.

Ähnlich überraschend war für Jeannette Toussaint der Fund der alten Fassadenbuchstaben, die 1948 am Kino angebracht wurden. Wie berichtet waren sie beim ersten Umbau des Filmtheaters 1959 abgenommen worden und lagerten anschließend in den Kleinmachnower Kammerspielen. Bei deren Sanierung sind sie nun im vergangenen Jahr wieder aufgetaucht. Sie sollen künftig im Eingangsfoyer des Thalia platziert werden. Warum die Buchstaben so lange unentdeckt blieben, ist Toussaint ein Rätsel. Die Familie Bornemann, die das Thalia bis 1950 gepachtet hatte, sei 1960 in den Westen gegangen und habe alle Unterlagen mitgenommen, erzählt sie. Warum sie keinen Hinweis auf die Fassadenlettern hinterlassen hat, bleibt jedoch unklar.

Jeanette Toussaints Buch ist nicht nur ein Einblick in die Geschichte des Thalia, sondern bildet auch ein Stück Potsdamer Kinogeschichte ab. Wo heute mit dem UCI, dem Filmmuseum und dem Thalia nur noch drei Kinos in Betrieb sind, gab es in den 1910er-Jahren viel mehr. Neben kleinen Ladenkinos zeigten unter anderem das jetzt seit Jahren verfallende Charlott, das Alhambra in der Französischen Straße, das Melodie in der Friedrich-Ebert-Straße oder das Bergtheater, welches am Standort des Schwimmbades blu stand, Filme. „Auch das Obelisk war ein Kino, bevor es Kabarett wurde“, erzählt die Autorin: „Und in einem der Babelsberger Weberhäuser gab es das Union Theater.“ Seit den 1920er-Jahren hat sich die Kinoszene dagegen schrittweise ausgedünnt. Ab 1952 wurden alle Kinos zudem verstaatlicht. Ohne die privaten Besitzer wurden die Gebäude vernachlässigt.

Toussaint erzählt all das in chronologischer Reihenfolge, von den Anfängen bis heute. Das Kapitel über die Zeit des Nationalsozialismus war dabei eines der schwierigsten, wie sie sagt. Das liegt auch wieder an der mangelnden Quellenlage. „Hier war ich wirklich der Verzweiflung nahe“, berichtet sie. „Ich dachte, ich bekomme überhaupt nichts zusammen.“ Durch viele Archivgänge stieß sie dennoch noch auf Interessantes. Etwa, dass das Thalia wie alle Kinos in Deutschland seit Kriegsbeginn für kostenlose Veranstaltungen von nationalsozialistischen Organisationen zur Verfügung stehen musste. Und das Programm? Im März und April 1945 läuft in vielen deutschen Kinos Veit Harlans Propagandafilm „Kolberg“ – auch im Thalia.

Zwei Jahre später finden in dem Filmtheater sogar zwei Boxkämpfe dort statt. Der Babelsberger Berufsboxer Arno Przybilski steigt dort am 11. Mai und 5. Oktober 1947 in den Ring.

Am Ende verrät Toussaint noch eine überraschende Entdeckung: Die Leitung des Thalia lag von 1952 bis 1961 in den Händen einer Frau. Die ehemalige Kassiererin Margarete Hanel hatte sie inne. „Das war hier nicht unbedingt üblich“, sagt die Autorin. Wie es in Potsdam um Kinofrauen sonst noch bestellt war, das möchte Toussaint gerne zukünftig erforschen. Es führt sie eben immer wieder zum Kino zurück.

Jeanette Toussaint: Kino in der Filmstadt Babelsberg. Hundert Jahre Thalia. 154 Seiten kosten 13,90 Euro. Erhältlich im Kino Thalia.

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