zum Hauptinhalt
Historische Retourkutsche. Nachdem der Soldatenkönig einst mit seiner Kutsche in Werder im Morast stecken blieb, befahl er den schadenfrohen Werderanern, ihre Straßen auf eigene Kosten zu pflastern (o.). Solche und ähnliche Anekdoten erzählte Nachtwächterin Beate Petrov (M. u.) am Samstag ihren Gästen auf ihrer Tour durch die abendliche Havelstadt.

© Andreas Klaer

Werder (Havel): Auf einen Absacker in die Apotheke

Wenn die Nachtwächterin „Neun ist die Glocke!“ ruft: Ein Streifzug durch die Geschichte Werders.

Werder (Havel) - In Werder haben die Frauen das Sagen und das seit alters her. Da ist es nicht verwunderlich, dass das Stadtoberhaupt der Havelstadt eine Frau ist, jährlich eine Blütenkönigin gekürt wird und sogar der Job des Nachtwächters fest in weiblichen Händen liegt. Augenzwinkernd verweist zwar Beate Petrov, die dieses Amt ausübt, stets darauf, ihr Gatte sei noch im königlichen Auftrage unterwegs, weshalb sie ihn nur vertrete, „weil die Familie ja nun mal von diesem Salär abhängig ist“. Doch den rund 30 Teilnehmern des Nachtwächterrundganges am vergangenen Samstagabend wurde schnell klar, eine bessere Vertretung konnte es gar nicht geben. Denn der kurzweilige Streifzug mit interessanten Details zur Stadtgeschichte wurde zum Erlebnis.

Die 2004 gegründete Gilde der Stadtführer lädt regelmäßig zu Führungen rund um die Insel ein. Bei den unterhaltsamen Exkursen in die Stadtgeschichte sind besonders die Nachtwächterführungen beliebt. Als der Ruf „Neun ist die Glocke!“ über die Inselbrücke hallte, begann eine Zeitreise durch das nächtliche Inselstädtchen rund um den Marktplatz, vorbei am Lendelhaus, der Baderstraße bis zum Mühlenberg. Mit breitkrempigem Hut, Regenumhang, Brandhorn und Laterne schritt Nachtwächterin Petrov in die schummrig erleuchteten Gassen voran. Von ihr erfuhren die Gäste der Tour, dass Nachtwächter nicht nur die Stunden ausriefen, sondern auch eingriffen, wenn etwas nicht mit rechten Dingen zuging, „also lichtscheues und liederliches Pack“ unterwegs war. Auch Brunnen wurden nachts kontrolliert und natürlich die Einhaltung der Schankzeiten. Bei den über 40 Kneipen, die es im 19 Jahrhundert auf der Insel gab, musste der Zapfhahn um zehn Uhr zugedreht sein, doch diese Vorschrift wussten laut Petrov einige Werdersche listenreich zu umgehen. Allen voran der Pillendreher aus der Adlerapotheke am Markt, der ein eigenes Brand- und Schankrecht besaß und keinen Hehl aus seiner Überzeugung machte, dass Alkohol schließlich auch Medizin sei. Nachtwächterin Petrov wusste zu berichten, dass nach Schankschluss öfter mal durstige Kehlen an dessen Apothekentür klopfen. Empörend sei aber vor allem, dass „der dann das Gesindel auch noch ins Hinterstübchen holt“.

Solche Geschichten über das Leben der Insulaner gab es an jeder Ecke des Streifzuges, ebenso Einblicke in das Denken der Altvorderen. So hielt wohl damals ein Teil von ihnen nicht viel von Bürgermeister Franz Dümichen, der ab 1884 die Geschicke der Stadt lenkte und nach dem über 100 Jahre später sogar eine Schule benannt wurde. „Der Dümichen spinnt, denkt sich immer was Neues aus. Jetzt will er eine Pferdebahn mit Schienen zum Bahnhof“, zitiert Petrov eine historische Aussage. Dort am Bahnhof ging damals noch die Post ab und kam sackweise auch nach Werder. Des Postmanns Weib wusste genau, wer von wem Briefe bekam und sorgte entsprechend für Tratsch. Da war die Häme dann groß, als ein Postsack samt dem Postmann in der Havel versank, weil der den langen Weg über die Brücke abkürzen wollte und lieber den kürzeren über die zugefrorene Havel nahm.

Ein anderes Mal mussten die Werderaner ihre Schadenfreude aber teuer bezahlen. Denn als der Soldatenkönig mit seiner Kutsche im Morast steckenblieb und die Einwohner seinen Anblick mit lautem Lachen quittierten, ordnete der König an, Straßen und Marktplatz zu pflastern – auf Kosten der Einwohner. Spuren des königlichen Befehls sind noch immer das holprige Pflaster, das Autos zum Langsamfahren zwingt und bei deren aufblitzenden Scheinwerfern stets Nachtwächters Ruf ertönt: „Achtung, Kutsche!“ Viele erleuchtete Fenster erlaubten am Samstag Einblicke in die guten Stuben, an deren Decken noch urige Balken zu sehen sind. Und im Malatelier Stahlberg stand der Künstler inmitten seiner Bilder wie auf einer Bühne. Ansonsten ist es schon kurz nach neun auffallend ruhig in den Gassen.

Früher war an Wochenenden Tanz in den Sälen und wehe ein Geltower wagte es ein Werderaner Mädel anzubaggern. „Da flogen Stühle und Tische“, weiß Petrov. Denn die Werderaner wussten schon, was sie an ihren Mädels hatten. Die konnten angeblich lauter sein als die Berliner, was vorteilhaft auf den Märkten war, um dort Obst zu verkaufen. Schon am Abend zuvor waren es die Frauen, die sich mit Kähnen auf den Weg machten, um morgens auf Berliner Märkten ihre Waren feil zu bieten. Immer dabei ihr Strickzeug in einem Holzkoffer, auf dem sich auch sitzen ließ und in dem die Geldschatulle sicher verwahrt werden konnte. Die Frauen hatten also nicht nur das Ruder in der Hand, so Petrov, sondern saßen buchstäblich „auf dem Geld“. Verständlich, dass sie da auch das Sagen hatten.

Nächste Führungen: 19.11.2016, 14:30 Uhr, Spaziergang über den Inselfriedhof

Kirsten Graulich

Zur Startseite