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Zeitzeugin Helga Sperlich. 

© Varvara Smirnova

Gedenkstätte Lindenstraße: Erinnern an Widerstand aus Werder

Eine neue Schau in der Gedenkstätte Lindenstraße erinnert an 30 junge Werderaner, die in den 1950er Jahren ins Visier der Stasi gerieten. 

Werder (Havel)/Potsdam - Sie hatte Briefe von Freunden aus Westberlin nach Potsdam mitgenommen. Und hier im Osten steckte Helga Sperlich, die damals in Glindow wohnte, die Post dann zur Weiterbeförderung in einen ganz normalen Briefkasten, meist am Bahnhof in Potsdam. „Das habe ich ein paar Mal gemacht“, sagt die heute 87-Jährige, die damals, zu Beginn der 1950er Jahre noch Starke hieß. Der Inhalt der Briefe sei ihr zwar nicht bekannt gewesen. Aber vermutlich habe politisch Brisantes daringestanden, sagt Sperlich.

Denn dass die Freunde, für die sie die Post damals transportierte, gegen die Kommunisten im Ostteil Deutschlands eingestellt waren, das habe sie durchaus gewusst, berichtete die Zeitzeugin am gestrigen Dienstag bei einem Pressetermin in der Potsdamer Gedenkstätte Lindenstraße. Am morgigen Donnerstag wird hier an diesem Ort, an dem Jahrzehntelang gleich mehrere Diktaturen ihr Unwesen trieben, eine Ausstellung mit dem Titel „Zwischen den Fronten“ eröffnet. 

Die Schau erinnert an junge Menschen aus Werder (Havel) und Umgebung, die Anfang der 1950er Jahre ins Visier der ostdeutschen Machthaber geraten waren. Aus Sicht der Obrigkeit gehörten sie alle einer angeblichen antikommunistischen Widerstandsgruppe an. Mehr als 30 Personen, darunter Helga Sperlich, rechnete man der vermeintlichen Gruppe zu.

Für Sperlich könnten es diese Botendienste für die Freunde aus Westberlin gewesen sein, die ihr zum Verhängnis wurden. Am 29. August 1951 holten Stasi-Mitarbeiter die zu dieser Zeit 19-Jährige in Glindow ab und brachten sie in das Gefängnis in der Potsdamer Bauhofstraße, heute Henning-von-Tresckow-Straße. „Ich dachte, das sei ein Irrtum“, erinnert sich Sperlich, die heute in Reutlingen lebt, an ihre Verhaftung vor nunmehr bald 70 Jahren. Nach kurzer Zeit im Gefängnis habe man ihr ein Schriftstück vorgelegt, auf dem stand: „Unterschrift des Häftlings bei der Entlassung“. In dem Glauben, nun habe sich alles aufgeklärt und sie könne wieder nach Hause, unterschrieb Sperlich. Dass ihr Leidensweg jedoch gerade erst begonnen hatte, ahnte die junge Frau da noch nicht. 

Denn aus dem Stasi-Gefängnis ging es für Sperlich nicht etwa zurück nach Glindow, sondern man brachte sie direkt in das Gefängnis des sowjetischen Geheimdienstes in der Potsdamer Lindenstraße. Hier wurde sie im Januar 1952 wegen angeblicher Spionage, „Propaganda und Agitation“ sowie „Verbreitung von Schriften“ von einem sowjetischen Militärtribunal zu 25 Jahren Zwangsarbeit verurteilt. Es folgte ein zweimonatiger Transport nach Workuta, jenem Ort, der heute vielleicht wie kein zweiter für das sowjetische Gulag-System bekannt ist. Eine unwirtliche Region nördlich des Polarkreises. Sperlich musste dort im Gleisbau arbeiten. Wenn der Schneesturm zu heftig und die Kälte zu gewaltig war „hat man sich die Schaufel vor’s Gesicht gehalten“, erinnert sich Sperlich, die 1953 wieder entlassen wurde. Da war sie 21 Jahre alt.

Acht Menschen jedoch, die der vermeintlichen Werderaner Gruppe zugerechnet wurden, mussten mit dem Leben bezahlen. Sieben von ihnen verurteilten die Sowjets in der Lindenstraße zum Tode. Sie alle wurden 1952 im Moskauer Butyrka-Gefängnis erschossen. Die neue Schau in der Lindenstraße widmet diesen acht Opfern kommunistischer Verfolgung kleine Gedenkbücher an einer Wand im Ausstellungsraum und schafft so einen würdevollen Rahmen des Erinnerns.

Die Ausstellung, in der auch weitere Einzelschicksale, darunter jenes von Helga Sperlich, näher vorgestellt werden, ist unter Leitung der Kuratorin Amélie zu Eulenburg in Zusammenarbeit mit Studenten des Masterstudiengangs Public History von der Freien Universität Berlin entstanden. Die Schau hat in einem großen Raum der Gedenkstätte Lindenstraße Platz gefunden. Keine umfassende Aufarbeitung, aber doch zumindest ein kräftiges Schlaglicht. Offiziell firmiert sie als Werkstattausstellung.

Der Titel „Zwischen den Fronten“ verweist auf die Sandwich-Situation, der die jungen Leute aus Werder und Umgebung damals ausgesetzt waren. Da war die Frontstadt Westberlin mit all ihren Verlockungen und den Aktivitäten westlicher Geheimdienste. Und draußen herum, im Osten, saßen die Kommunisten unter Führung der Sowjets.

Sie wussten nicht, in welche Gefahr sie sich begaben

Einigen der Jugendlichen wurde in den Prozessen vorgeworfen, im Auftrag der antikommunistischen Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit Propagandamaterial in den Osten gebracht zu haben. Andere wiederum hatten Kennzeichen sowjetischer Militärfahrzeuge notiert, um diese dann dem Westen zu melden. „Sie haben nicht gewusst, in welche Gefahr sie sich begeben“, sagt Uta Gerlant, die Leiterin der Gedenkstätte Lindenstraße, über die jugendlichen Werderaner von damals.

Jedoch von einer echten Widerstandsgruppe kann heutigen Erkenntnissen zufolge keine Rede sein. Es war eher ein Kreis von gleichgesinnten Freunden, die sich auch nicht alle untereinander kannten. Über diejenigen, mit denen sie selbst bekannt war, sagt Zeitzeugin Sperlich: „Wir alle waren mit diesem Regime nicht einverstanden.“

Die Ausstellung ist vom 11. Juli bis 29. September 2019 dienstags bis sonntags von 10 bis 18 Uhr in der Lindenstraße 54 in Potsdam zu sehen.

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