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Menschen mit Behinderung stehen beim Reisen oft vor Problemen.

© picture alliance/dpa

Fehlende Orientierungshilfen: Stolperfallen: Bahnsteige unter der Lupe

Barrierefreie Bahnhöfe sind für behinderte Menschen unabdingbar. In Brandenburg gibt es Nachholbedarf - auch in Potsdam und Potsdam-Mittelmark.

Werder (Havel) - Wenn Peter Richter mit dem Zug von Treuenbrietzen im Südwesten Brandenburgs nach Berlin fahren möchte, beginnen seine Planungen mindestens 24 Stunden vorher. Dann wählt Richter die Nummer des Mobilitätsservice und meldet sich an. „Wenn ein Zug mal nicht kommt, ist meine Reise gestrichen. Ich kann nicht einfach auf den nächsten Zug warten. Der Service braucht einen Tag Vorlauf“, sagt Richter. Der Mann, der einem mit festem Blick tief in die Augen schaut ist blind. Seine Sehleistung liegt unter zwei Prozent. Er kann nur noch hell von dunkel unterscheiden.  

Beim Reisen ist Richter auf die Hilfe von anderen angewiesen. Und auf vernünftige Leitlinien an Haltestellen, in Bahnhöfen und vor allem an Bahnsteigen. Leitlinien, das sind die meist weißen geriffelten Linien auf dem Boden, die am Bahnsteig entlang führen und auf denen häufig Menschen stehen – ein Hindernis für sehbehinderte und blinde Menschen, denen sie die einzige Orientierung bieten, um nicht ins Gleisbett zu stürzen.  

Am Bahnhof Werder (Havel) bietet ein Markierungssystem Blinden und Sehbehinderten Orientierung.
Am Bahnhof Werder (Havel) bietet ein Markierungssystem Blinden und Sehbehinderten Orientierung.

© Anna Kristina Bückmann

Doch die wichtigen Orientierungshilfen sind nicht an allen Bahnhöfen in Brandenburg vorhanden. Am Bahnsteig 2 in Werder (Havel) beispielsweise fehlt eine solche Linie. Am Donnerstag zum Protesttag zur Gleichstellung für Menschen mit Behinderung, haben Brandenburgs Landesbehindertenbeauftragte Janny Armbruster und Lisa Weyhrich, Behindertenbeauftragte für den Landkreis Potsdam-Mittelmark, gemeinsam am Bahnhof Werder (Havel) auf das Problem aufmerksam gemacht. 

„Barrierefreiheit ist die Grundvoraussetzung für Menschen mit Behinderung, um am öffentlichen Leben teilzunehmen“, sagt Armbruster. Sie fordert, dass Kommunen mehr in die Barrierefreiheit investieren. „Das Problem sind nicht nur Bahnhöfe. Auch Arztpraxen sind häufig einfach nicht barrierefrei“, sagt sie.  

Janny Armbruster, die Landesbehindertenbeauftragte.
Janny Armbruster, die Landesbehindertenbeauftragte.

© ZB

Auch am Potsdamer Bahnhof gibt es Schwachstellen

Vor dem Termin in Werder war Armbruster am Bahnhof in Potsdam. Dass es auch hier Schwachstellen bei der Barrierefreiheit gibt, weiß Daniela Waiß. Die Frau mit der bunten Mütze und der dunklen Sonnenbrille ist sehbehindert. Ihr Sichtfeld beträgt acht Grad. „Ich habe einen Tunnelblick.“ Waiß sieht nur, was sich genau vor ihr befindet – zu hohe Bordsteinkanten sind für die Wirtschaftsmathematikerin schlimme Stolperfallen. Sie erinnert sich, als am Potsdamer Bahnhof Rolltreppen und Fahrstühle ausgefallen waren. „Man steckt dann einfach fest.“  

Auch Peter Richter war bei der Begehung in Potsdam dabei. Weitere Schwachstelle: An der Ampel vor dem Bahnhof funktioniert das Auffindesignal nicht. Das akustische Signal, meist ein Klopfen oder Tackern, läuft schneller oder langsamer, je nachdem, ob die Ampel Grün oder Rot zeigt. Für Blinde und Sehbehinderte ist das Signal überlebenswichtig. Fehlt es oder läuft es falsch, können sie mitunter bei Rot auf die Straße laufen. Sie sind auf ihr Gehör angewiesen. „Der Halbkreis mit dem Stock hilft da auch nicht mehr“, sagt Richter. 

Peter Richter erblindete 2018.
Peter Richter erblindete 2018.

© Anna Kristina Bückmann

Manchmal werde er sogar angegangen, wenn er mit seinem Blindenstock Halbkreise vor sich ziehe, um Hindernissen auszuweichen oder Stufen und Bordsteinkanten rechtzeitig wahrzunehmen. „Mach dein scheiß Nordic Walking im Wald“, habe einer ihm mal zugerufen. Die meisten Menschen seien aber sehr hilfsbereit. Auch das Personal bei Bus, Tram und Bahn, findet Richter. „Die Hilfsbereitschaft ist unglaublich.“ 

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„Auf einmal wurde der Computer bei der Arbeit nicht hell“

Richter musste lernen, sich auf andere zu verlassen. Der gelernte Fahrzeugschlosser erblindete 2018. „Auf einmal wurde der Computer bei der Arbeit nicht hell“, erinnert er sich. Er kommt in die Rettungsstelle. Diagnose: Schlaganfall. Von dort fährt er noch mit dem Auto nach Hause. Als sein Beifahrer zu ihm sagt: „Peter, siehst du den weißen Transit nicht?“, wusste Richter, dass er sein Auto von nun an stehenlassen muss. Für den Hobby-Angler, der gerne bis zu 1000 Kilometer bis nach Norwegen fuhr, folgte ein Jahr in sozialer Abgeschiedenheit. „Es war die größte Einschränkung. Du bist von heute auf morgen nicht mehr beweglich.“ 

Richter trifft auf Michael Lehmann. Lehmann leitet das Büro des Sozialwerks Potsdam. Lehmann hilft Richter dabei, die notwendigen Anträge für Unterstützung zu stellen. Ein halbes Jahr lang und 40 Blindenstock-Stunden später, beginnt für Richter wieder ein Leben mit Beweglichkeit. Erst sei er mit dem Zug zum Berliner Alexanderplatz gefahren. Dann ging es nach Rostock, seine Heimatstadt. Seine Frau ließ Richter Zuhause. „Das musste ich alleine machen.“ 

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