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Chronik über Werder (Havel): Eine sonderbare Nation

200 Jahre auf 200 Seiten: Eine neue Chronik über Werder zeigt, wie arm die Stadt gewesen ist, wie der Obstbau fast zugrunde ging und welche Rolle die Nazis in Werder spielten.

Von Eva Schmid

Werder (Havel) - Geschichte wiederholt sich gern: Das Debakel, das Werder heute mit seiner halbfertigen Blütentherme erlebt, ist für die Blütenstadt gar nicht so ungewöhnlich. Ein Blick in die neue Werderaner Chronik zeigt, dass der Bau der Baumgartenbrücke ein noch viel größeres Desaster war. Nachdem französische Truppen einen der Zugänge nach Werder zerstört hatten, sollte die Brücke im Kriegsjahr 1814 neu errichtet werden. Doch das Holz wurde zu spät geliefert und es fand sich keiner, der den Job übernehmen wollte. „Der Auftrag war den Bauleuten zu heiß“, sagte der Historiker Baldur Martin bei der Vorstellung der von ihm verfassten Chronik. Am Ende machte die Arbeit ein Potsdamer Zimmermeister. Wenige Monate nach Fertigstellung gab es bereits die ersten großen Mängel. Es fehlten ganze Pfähle, minderwertiges Holz kam zum Einsatz. Nach weiteren dreizehn Jahren war das Bauwerk so marode, dass es abgerissen werden musste. Man mag es kaum glauben, aber den Neubau übernahm wieder die Potsdamer Firma.

Nazi-Zeit in Werder bisher wenig beleuchtet

Heute, 200 Jahre später, lacht man darüber. Nicht nur Desaster-Geschichten, auch Anekdoten und Aufzeichnungen aus dem damaligen Alltag hat Martin zusammen mit Erhard Schulz und dem Illustrator Tino Würfel auf 200 Seiten zusammengetragen. In Werder stellten die Historiker jüngst den zweiten Band der 700-jährigen Ortsgeschichte vor. Zum Jubiläum im kommenden Jahr sollen sieben Bände stehen, die ganze Stadtgeschichte will man erfassen. Der neu erschienene Band beschreibt das Leben in der Inselstadt von der vorindustriellen bis in die Nazizeit: 1740 bis 1944. Besonders das Kapitel über das Dritte Reich und dazu, wie die Werderschen die Machtübernahme der NSDAP mitmachten, wie sie die Juden verfolgten, ist in Werder bislang wenig beleuchtet. Auch wenn viele Akten von damals vernichtet wurden, hätten die lokalen Zeitungen täglich etwas berichten müssen, sagt Martin. In alten Zeitungsartikeln sei er fündig geworden.

Das dunkle Kapitel der Stadt beschreibt unter anderem, wie jüdische Familien die Blütenstadt nach den Novemberpogromen in Richtung Berlin verlassen hatten. In der Großstadt erhofften sie sich durch die Anonymität mehr Schutz. Auch dass die Nazis sich dem Obstbau eigentlich entledigen wollten, hat Historiker Martin herausgefunden.

Der Obstbau lag zu Kriegszeiten brach

„Die Gauleitung befahl 1942 den Obstbau zu liquidieren“, so Martin. Grund: Der Obstbau lag zu Kriegszeiten so gut wie brach. Zudem würden die Obstzüchter zunehmend verelenden aufgrund von Frostschäden und der Bodenmüdigkeit, hieß es damals von offizieller Seite. Die Obstbauern liefen Sturm, ihr Glück war es, dass die Versorgungslage zu Kriegsende immer schwieriger wurde und ihr Obst Absatz fand. Am Ende haben sich die Werderaner und die damaligen Befehlshaber darauf geeignet, dass der Obstbau rund um die Stadt auf schnellwachsende Kulturen wie Pflaumen, Sauerkirschen und Pfirsiche umgestellt werden sollte. Auch mehr Gemüse wollte man anpflanzen. Besonders nach dem Zweiten Weltkrieg sei das dann bitter nötig gewesen, sagt Martin. So arm wie damals war die Stadt nicht nur einmal: Auch gute 100 Jahre zuvor habe die Stadt kurz vor der Pleite gestanden.

Ein Detail, das bisher noch gar nicht bekannt war und nun durch die Recherche der Historiker ans Tageslicht gerückt wurde, ist die Besetzung Werders von französischen Truppen während der Napoleonischen Kriege Anfang des 19. Jahrhunderts. Offiziere wurden bei den Werderanern einquartiert „und haben sie armgefressen“, beschreibt Martin in drastischen Worten. Hinzu kam 1808 eine Hungersnot, die die Situation noch verschärfte. Die Stadt, die beauftragt war, die Franzosen mit Lebensmitteln zu versorgen, musste sich Geld – damals wurde in Talern bezahlt – von Händlern leihen.

Ein Mammutprojekt, das den Blick auf Werder verändert

Für die Recherche zu der jetzt erschienenen Chronik hat Martin rund ein Dreivierteljahr gebraucht. 800 Akten habe er gesichtet, in 400 habe etwas über Werder gestanden. Unzählige Stunden verbrachte der 76-jährige Historiker in verschiedenen Archiven. Am späten Abend und in der Nacht wurde die Chronik geschrieben. Die Zeit vom Zweiten Weltkrieg bis in die Gegenwart will ein Kollege von Martin noch in diesem Jahr fertigbekommen. Im vergangenen Jahr ist der erste Band der Chronik veröffentlicht worden. Er behandelt die Zeit vom Ursprung der Stadt bis in die frühe Neuzeit. Die Chronologie in drei Teilen soll mit vier weiteren Bänden komplettiert werden – unter anderem über den Werderaner Obstbau oder die Geschichte der Industrie in Werder. Ein Mammutprojekt, das den Blick auf Werder verändert.

Denn so schön und prächtig, wie die Stadtgeschichte gerne dargestellt wird, sei es nicht immer gewesen, betont Martin. Im Gegenteil: Oft herrschte bittere Armut. Es gab Hungersnöte, die Syphilis verbreitete sich besonders zu Weihnachten und an Pfingsten. Wenn man mal nicht auf dem Feld sein musste und Zeit für Müßiggang hatte. Martin schmunzelt bei dieser Passage.

Und dann sagt er, ebenfalls mit einem Schmunzeln, dass sein Werk zu Teilen auf dem von Ferdinand Ludwig Schönemann basiere. Der Werderaner Stadtschreiber hat 1784 über das Leben, die Arbeit, Sitten und Gebräuche der Werderschen geschrieben. Selbst Fontane hätte von ihm abgeschrieben, ergänzt Martin.

„Die Eingeborenen sind größtenteils große starke nervigte Leute.“

Schönemann hat die Werderaner so ausführlich beschrieben, dass selbst Martin nicht mehr viel hinzuzufügen hat: „Die Eingeborenen sind größtenteils große starke nervigte Leute.“ Sie seien abgehärtet, könnten Hitze und Kälte in gleichem Maße ertragen. Ihre Lebensart sei bei der harten Arbeit in den Weinbergen, auf den Ziegeleien, beim Fischfang sehr beweglich. Aufgestanden werde im Sommer schon um zwei Uhr morgens. Trotz der vielen Arbeit würden sie bis zu 80 Jahre erreichen. Selbst Kinder müssten von der zartesten Jugend an ran, sich an die harte Lebensart gewöhnen. Eine eigene, sonderbare Nation, befand Schönemann.

 

Baldur Martin, Erhard Schulz, Tino Würfel: 700 Jahre Ortsgeschichte Werder (Havel). Band 2: Die Stadt im Wandel. Knotenpunkt-Verlag, 17 Euro.

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