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"Wüstungen": Was bleibt, bestenfalls

Anne Heinlein, Göran Gnaudschun und die Vergänglichkeit: „Wüstungen“.

Was wird am Ende bleiben von dem, was wir Zivilisation nennen – bestenfalls? Das Buch der Potsdamer Fotografen Anne Heinlein und Göran Gnaudschun, das soeben im Berliner Distanz Verlag erschienen ist, erzählt eine andere Geschichte, weiß aber auch auf diese vermeintlich schwierigste aller Fragen eine Antwort. Was einst bleiben wird, wenn wir Gäste uns vom Erdenacker gemacht haben, ist nicht viel. Es ist: Gestrüpp. Unterholz. Vielleicht eine Brache hier und da. Hohes Gras, falls das noch wachsen kann, wo Menschen mal lebten. Eine Natur, die sich nicht darum schert, wer hier mal lebte oder leben wollte, und warum dieser jemand jetzt weg ist.

„Wüstungen“ heißt das Buch, das diese Einsicht vermittelt. Das Schönste an diesem insgesamt sehr schönen Buch ist, dass seine Lektion in Sachen Ehrfurcht vor der Vergänglichkeit der menschlichen Existenz nicht pompös oder mahnend daherkommt. Sondern poetisch und im Grunde nebenbei. Denn die eigentliche Geschichte, die Gnaudschun und Heinlein erzählen, ist ein Teil DDR-Geschichte. Die Geschichte eines Staates, der seine Menschen mit einem vorgeblichen Schutzwall umspannte und jene, die das Pech hatten, in der Nähe dieses „Schutzwalls“ zu leben, umherschob wie Schachfiguren auf einem Brett. Die Orte, an denen die Ausgesiedelten zuvor gelebt hatten, wurden dem Erdboden gleichgemacht. Die Ränder des Staates wurden zu von Stacheldraht und Selbstschussanlagen umstellten Brachen. Wüstungen.

In einem einleitenden Essay beschreibt Göran Gnaudschun zunächst die historischen Eckdaten dieser Wüstenei: Die erste DDR-weite Aussiedlungsaktion fand 1952 statt, unter dem geheimen Namen „Aktion Ungeziefer“. Es folgten andere Aktionen, sie trugen heute hämisch wirkende Namen wie „Aktion Neues Leben“. Denn natürlich gingen die wenigsten der 11 000 bis 1961 Ausgesiedelten freiwillig aus ihren Häusern fort. Vor allem in den ersten Jahrzehnten geschah das nur unter Zwang und war oft sehr schmerzvoll für die Betroffenen – auch davon gibt das Buch Zeugnis. Es zeigt neben historischen Fotos der gewüsteten Ortschaften auch Briefe von Betroffenen – aus dem Archiv der Stasi. Die Briefe tragen den Stempel der Behörde des Bundesbeauftragten für Stasiunterlagen (BStU).

Noch 1988 wurde das letzte Dorf geschliffen, schreibt Gnaudschun. In den 80er-Jahren waren die Lebensbedingungen für die Menschen im Grenzgebiet so schwierig geworden, dass es von Staatsseite leichter war, sie auch ohne Zwang mit Versprechungen von dort wegzulocken. Bald darauf war ohnehin alles vorbei: „Nach 40 Jahren teilte der gewaltige Komplex das Schicksal der Wüstungen“, schreibt Gnaudschun lakonisch. Die Grenzanlagen wurden geschleift.

Dass der preisgekrönte Potsdamer Fotograf Göran Gnaudschun, der gerade im Rahmen eines Stipendiums in der Villa Massimo in Rom weilt, hier ausnahmsweise als Autor hervortritt, erweist sich als Glücksfall. Die in den letzten Jahren aufgenommenen Fotos der gewüsteten Orte – das Gestrüpp, das Unterholz, die Brachen – stammen von Gnaudschuns Lebensgefährtin Anne Heinlein, die ebenfalls Fotografin ist. Während Heinleins Schwarz-Weiß-Aufnahmen kühl den Ist-Zustand dokumentieren, beschreibt Gnaudschun in Texten, was die Bilder nicht zeigen: Was hier einst stand, wer hier lebte. Und immer wieder: Wie schwierig es war, diese Orte überhaupt zu finden.

Jahrsau zum Beispiel. Erstmals urkundlich erwähnt im Jahr 1375. 1948 noch 39 Einwohner, 1952 begannen die Zwangsumsiedlungen. 1970 wurde der Ort vollkommen geschleift. Gnaudschun schreibt 2016, er habe die Geokoordinaten ins Navi eingegeben und sei auf einer Wiese gelandet. Er macht Tonaufnahmen, die die beredte Stille an diesem Ort festhalten sollen: Vogelgezwitscher. Heinleins Foto des Ortes, das man nur über das Register am Buchende dem Text zuordnen kann, zeigt dichtes Gebüsch.

Andernorts tun Gnaudschun und Heinlein richtige Erinnerungsschätze auf. Treffen den greisen Dieter Ludloff aus Billmuthausen, der als Kind dort mit seiner Familie das Gutshaus bewohnte. Ein historisches Foto im Buch zeigt ihn, als gestriegelten Knaben neben einem Spielzeugbauernhof. Ludloff ging in den Krieg, danach war das Gut weg. Das Dorf, das er nie wiedersehen wird, stirbt ab 1952 einen langsamen Tod. 1978 werden die letzten Häuser abgerissen.

In „Wüstungen“ tanzt das Kind, das Ludloff mal war, wieder Ringelreihn. Im Fotohintergrund sind solche Büsche zu sehen, wie sie heute vermutlich dort wuchern, wo das Haus seiner Kindheit mal stand. „Es gibt keine Wiederkehr“, schreibt Gnaudschun. „Aber anscheinend löst sich das Gewesene langsamer auf, als wir gemeinhin glauben.“ Selten hat man das Nebeneinander von Gewesenem und Kommendem so poetisch nebeneinander gesehen wie in diesem Buch.

Anne Heinlein, Göran Gnaudschun: Wüstungen. Distanzverlag Berlin 2017, 39,90 Euro. Bis zum 5. März ist im Haus am Kleistpark (Grunewaldstraße 6, 10823 Berlin) eine gleichnamige Ausstellung zu sehen.

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