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Angespannte Stimmung im Haus. Unten patroulliert die Bürgerwehr.

© Jan Mayntz/Heartwake Films

"Wir könnten genauso gut tot sein" auf der Berlinale: Eine Nachbarschaft radikalisiert sich

Angst erzeugt Gewalt: Filmuni-Absolventin Natalia Sinelnikova und ihre Dystopie über eine Hausgemeinschaft hat die Perspektive Deutsches Kino eröffnet. 

Berlin - Angst, das ist ein allmächtiges, dem Menschen evolutionsgeschichtlich als Überlebensversicherung eingeschriebenes Gefühl. Angst schärft die Sinne, lässt sich in Thrillern zur Angstlust drehen und von Politikern, Populisten und Verschwörungsfantasten zur Manipulation nutzen. Schon vor der Pandemie. Doch die verstärkt noch mal die existenzielle Verunsicherung, mit der die Menschen in die Zukunft blicken. 

Als Absolventin der Filmuniversität Babelsberg Konrad Wolf kann man wahrlich dünnere Bretter bohren, als einen Abschlussfilm über die Angst als gesellschaftlichen Sprengstoff zu konzipieren. Genau das aber hat die Regiestudentin Natalia Sinelnikova getan. Sehr zu recht hat ihr Langfilmdebüt „Wir könnten genauso gut tot sein“, die Perspektive Deutsches Kino eröffnet.

Sie verstärkt sich im Schneeballeffekt

„Es beeindruckt mich, wie sehr Angst politische, persönliche und gesellschaftliche Prozesse beeinflusst“, sagt die Regisseurin. Ein Onlinetreffen zieht sie vor, um auf der Berlinale auch ja gesund zu bleiben. Das gilt nicht als Angst, sondern als gesunder Menschenverstand.

Angst sei so dominant, dass es alle anderen Gefühle in den Schatten stelle, glaubt sie. In der schwarzhumorig-absurden Dystopie verschwindet ein Hund und am Ende radikalisiert sich eine ganze Hausgemeinschaft. „Mich hat interessiert, wie sich irrationale Angst als System reproduziert, in einer Art Schneeballeffekt.“

[Berlinale-Vorstellungen: 17. 2., 14 Uhr u. 18. 2., 11 Uhr (International), 19.2., 21.30 Uhr (Cinemaxx 1 & 2). In der Reihe "Berlinale Spotlights" läuft der Film am 26.2. um 18 Uhr in Filmmuseum Potsdam, die Regisseurin ist anwesend.] 

Ein Wald als Bild für Chaos, Gefahr und Isolation. Ein Haus als Hort des Schutzes, des Komforts, der Gemeinschaft. Das sind die leicht überhöhten Gegenwelten, die Natalia Sinelnikova in „Wir könnten genauso gut tot sein“ zeichnet. Wobei die lichte brandenburgische Kiefernmonokultur nur in der Imagination der Hausbewohner so lebensgefährlich ist, dass Wohnungsbewerber auf dem Weg zur Gated Community bewaffnet hindurcheilen.

Lanthimos lässt grüßen

Dass ihr formal beeindruckend geschlossener Film vom „Greek Weird Wave Cinema“ eines Yorgos Lanthimos inspiriert ist, muss sie im Gespräch nicht groß bestätigen. Das sieht man der Inszenierung an. Was die selbstbewusste Eloquenz und den analytischen Blick angeht, ähnelt Natalia Sinelnikova ihrer Hauptfigur Anna, die im Haus als Sicherheitsbeauftragte fungiert.
Dumm nur, dass sich die strenge Hüterin hauseigener Standards, die einen ziemlichen George-Orwell-Hau aufweist, selbst verdächtig macht. Weil Tochter Iris (Pola Geiger), die schönste Stimme des Mieterchors, von der Bildfläche verschwindet.

Von St. Petersburg nach Berlin. Natalia Sinelnikova kam mit sieben Jahren nach Deutschland.
Von St. Petersburg nach Berlin. Natalia Sinelnikova kam mit sieben Jahren nach Deutschland.

© Viktor Gallandi

Ebenso wie Willie, der Hund des Hausmeisters Gerti (Jörg Schüttauf). Iris jedoch hat das Haus nicht verlassen, sondern sich im Badezimmer verschanzt, weil sie die Gemeinschaft schützen will. Sie glaubt, den „bösen Blick“ zu haben, und kommuniziert mit ihrer Mutter nur noch durch die Türklappe. Das führt zu Szenen, die genauso gaga anmuten, wie die zunehmende Hysterie der Nachbarschaft.

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Anna wird von der charismatischen Rumänin Ioana Iakob gespielt. Eine Immigrantin als Hauptfigur zu besetzen, war erklärte Absicht der Immigrantin Natalia Sinelnikova. Die sich daraus ergebenden Gefühle von Fremdheit und Angst kennt sie gut. Sinelnikova kam 1996 im Alter von sieben Jahren mit den Eltern als so genannter russisch-jüdischer Kontingentflüchtling nach Deutschland.

Ihre Filmsprache ist geprägt vom migrantischen Weltbild. Das basiere auf jüdisch-postsowjetischer Perspektive und deutscher Sozialisierung, sagt sie. Sinn fürs Absurde gehört dazu. „Humor ist eine Überlebensstrategie, damit kann man den Schmerz der Figuren am besten erzählen.“

Baden wie ein Oktopus. Anna (Ioana Iacob) muss improvisieren, die Tochter blockert das Bad.
Baden wie ein Oktopus. Anna (Ioana Iacob) muss improvisieren, die Tochter blockert das Bad.

© Jan Mayntz/Heartwake Films

Der Mikrokosmos Hochhaus ist ebenfalls vertrautes Terrain. Dort ist sie in St. Petersburg aufgewachsen. Eingang, Fahrstuhl, der Nichtort Treppenhaus, die Gerüche und Geräuschen faszinieren sie. In der neuen Heimat Deutschland landet sie wieder in einem Hochhaus. Doch was in Russland als privilegierter Wohnraum gilt, wird in Berlin im Märkischen Viertel plötzlich als Ghetto angesehen. „Der soziale Status war ein anderer. Das hat mich als Zwölfjährige auch verletzt.“

Bloß nicht auffallen

Keine Angriffsfläche bieten, keine Blicke auf sich ziehen, sich perfekt anpassen. Was die Hausbewohner in „Wir könnten genauso gut tot sein“ praktizieren, hat auch Familie Sinelnikova trainiert. Filmheldin Anna nutzt die Assimilation nichts. Die destruktive Macht, die sich gegen sie richtet, ist stärker.

Trotz ihrer Appelle an die Vernunft der Hausgenossen. „Das Gefühl, sicher zu sein, ist genauso wichtig wie die Sicherheit selbst“, heißt es im Film. Der Rechtsruck, die AfD, der Umgang mit Asylsuchenden, Halle, Hanau: All das schürt Unsicherheit und Besorgnis. Natalia Sinelnikovas Parabel auf die Gewalt erzeugenden Mechanismen der Angst ist ihre Antwort auf die Beklemmung. 

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