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Der Engel der Geschichte (Mascha Schneider) in "Die Jury tagt" ist einer, der noch lernen muss - sich aber am Ende zum Racheengel aufschwingt.

© Thomas M. Jauk

Uraufführung am Hans Otto Theater Potsdam: Racheengel der Geschichte

Humorige Typenkunde oder Denkstück zur Deutschen Einheit mit Anleihen bei Walter Benjamin? Julia Schochs erster Theatertext „Die Jury tagt“ am Hans Otto Theater will beides sein.

Potsdam - Wie leicht wäre es gewesen, den Stoff von „Die Jury tagt“ auf ein Stück Lokalgeschichte zu verkleinern: Es trifft sich hierin eine Jury in einem „schlossähnlichen Gebäude, das heute zu demokratischen Zwecken genutzt wird“. Ein Denkmalentwurf ist zu küren, der an die Friedliche Revolution von 1989 erinnern soll. In Potsdam wird ein solches Denkmal im November bekanntlich eingeweiht, in Potsdam sitzt auch im Schloss der Landtag. 

In dem Stück, uraufgeführt im Hans Otto Theater am Vorabend des 3. Oktober, sitzt zudem mit am Jury-Tisch: ein schwerreicher Mäzen, der riesige Summen in den Wiederaufbau der historischen Mitte investiert hat – die alte Stadtmauer. Um die ging es in Potsdam nie, wohl aber um andere historische Gebäude, die nach 1989 mit der Unterstützung von Förderern wieder aufgebaut wurden und werden: Das Palais Barberini (Hasso Plattner), der Turm der umstrittenen Garnisonkirche (Günther Jauch), das 2014 wieder errichtete Stadtschloss (Plattner und Jauch). 

Welche Schicht der Geschichte wird erinnert - und wie?

Das wäre tatsächlich lokales Klein-Klein, würde es nicht gerade im Jahr 30 nach der Wiedervereinigung Fragen aufwerfen, die sich überall im Osten auftun – und um die, auch in Potsdam, leidenschaftlich gestritten wird. Denn wo Altes (Barock) wieder aufgebaut wird, muss Anderes, weniger Altes (DDR-Architektur) weichen. Wer entscheidet nun, welche Epoche im Stadtbild sichtbar bleibt, welche Schicht der Geschichte erinnert wird – und wie?

Das sind die Fragen, die die in Potsdam lebende Autorin Julia Schoch in ihrer Prosa (zuletzt „Schöne Seelen und Komplizen“) umtreiben. Auch in ihrem ersten Theatertext greift sie sie auf. Es ist ein Text von Yasmina-Reza-mäßiger Plauderhaftigkeit: Vier Jurymitglieder üben sich in der Kunst des höflichen Austauschs – und scheitern. Am Austausch und an der Höflichkeit.

Naturkunde. In der Regie von Catharina Fillers spielt "Die Jury tagt" (mit Henning Strübbe, Franziska Melzer, Bettina Riebesel, Joachim Berger) von Julia Schoch im Gestrüpp. 
Naturkunde. In der Regie von Catharina Fillers spielt "Die Jury tagt" (mit Henning Strübbe, Franziska Melzer, Bettina Riebesel, Joachim Berger) von Julia Schoch im Gestrüpp. 

© Thomas M. Jauk

Sicht von ganz oben: Aus der Perspektive eines Engels

Julia Schoch sieht nicht aus Potsdamer Sicht auf die Dinge, sondern von weit weg: von oben. Den vier Jurymitgliedern stellt sie einen bei Walter Benjamin geborgten Engel der Geschichte an die Seite. Und der muss noch lernen. Trägt nur schlichtes Weiß, klingt aber schon ganz schön alterweise: „Die Geschichte der Menschen ist die Geschichte wandernder Grenzzäune, jedes Mal mit viel Natur dazwischen.“ Während die Jury tagt, schaut der Engel (Mascha Schneider) ab und zu vorbei und kommmentiert klug in Richtung Publikum. Die Jurymitglieder sind, von der weinerlichen Alt-Neunundachtzigerin bis zum Gönnerhaften Mäzen, was der Engel aus der Distanz von Jahrhunderten in ihnen sehen mag: ins Humorige vergröberte Typen. Das ist der Nachteil, wenn man Menschen neben Engel stellt: Niemand ist ganz ernst zu nehmen. Nur: Wird man den Menschen so gerecht?

In der Inszenierung von Catharina Fillers kaum. Die Natur hat sich den Raum hier bereits zurückerobert. Die Jury-Sitzung findet nicht im Schloss statt, sondern in einem visuell beeindruckenden unterholzartigen Gestrüpp (Bühne: Maria Wolgast). Aufsteller verweisen auf die Namen der Juroren wie auf Exponate im Museum. Am Bühnenrand ein Absperrband. Wenn von draußen Demonstrationslärm eindringt – im Verlauf immer lauter, bedrohlicher – gucken die vier suchend ins Publikum.  

Jurydebatte als Naturkunde

Jurydebatte also als Naturkunde. Den Diskurs um die Vorherrschaft über die Geschichte zurrt Julia Schoch auf vier zugespitzte Stellvertreterpositionen zusammen. Da ist zunächst genannter Mäzen (Joachim Berger), früher Hausbesetzer, und auch ein bisschen „von hier“ (der Beweis: „das verlorene Familienerbe“). Kein böser Kapitalist, nein. Er findet es einfach „großartig!“, was „die Leute“ 1989 geschafft haben. Fantastisch! Enorm! Ja wirklich: „Das kann man gar nicht oft genug sagen: Toll gemacht!“ – „So lobt man Hunde“, erwidert jemand. Solche Dialoge machen Spaß, im Dialogpingpong ist „Die Jury tagt“ stark.

Eine der so Gelobten ist Zeitzeugin Marion Grothmann (Bettina Riebesel), 1989 auf der Straße an vorderster Front mit dabei. Wo die anderen um Schnittchen streiten, geht es ihr um Inhalte. Und um ihren Enkel. Den hat sie zu allen Gedenkstätten geschleppt, er soll begreifen! Will er aber nicht. Wie Marion darüber in Tränen ausbricht ist im Text rührend. Auf der Bühne nur komisch. Zwei gegensätzliche Facetten der jüngeren Generation sind mit Moritz (Henning Strübbe) und Jenny (Franziska Melzer) vertreten. Moritz ist Gastgeber: Assistent des Ministerpräsidenten, emsig, handlangernd, vermittelnd bis zur Unkenntlichkeit. „Die Mauer“ kennt er von einer Klassenfahrt nach Berlin. Als sie schon weg war.

Sätze, die größer sind als die Figuren

Jenny Adler ist das Gegenteil: Autorin, die nur ihre eigene Position kennt und kennen will. Schnippisch, spöttisch, egozentrisch. Sie will den „Kunstverstand“ in die Jury bringen. Die Denkmaldebatte betrachtet sie aus belustigter Distanz. Warum nicht ein Kriegerdenkmal, wenn schon, denn schon? In den Entwürfen sieht sie:  Godzilla, einen Turnlehrer, einen dünnen Penis. Als Inschrift schlägt sie vor, großspurig: „Manchmal kann die Freiheit das Ende aller Träume sein.“

Solche Sätze haken sich fest, sie scheinen größer als die Figuren, die sie sagen. Auch einer von Marion gehört dazu: „Am Ende ist alles klein. Erst ist es groß, dann ist es klein.“ Erlebte Geschichte ist verdammt dazu, mit der Zeit zum Anekdotischen zu schrumpfen: Das ist eine der nachdenkenswerten Thesen des Stückes. Für die Kunst hat niemand wirklich Geduld. Essen wir Salzstangen oder Catering? Sind Kopfläuse Schädlinge oder Lästlinge? Das sind hier die großen Fragen. Tja, und wer entscheidet nun, wie Geschichte erinnert wird? „Die Jury tagt“ sagt: zufällige, unmündige Entscheider. Die sich um sich sorgen, ihre Kinder, ihre Häppchen, ihren Chef. Nur nicht um die Geschichte.

Der Engel der Geschichte als Racheengel

Bevor die Jury final entscheiden kann, kracht es gewaltig. Der Engel, bislang nur Kommentator, tritt unter viel Gepolter im gleißenden Gegenlicht auf. Der Engel der Geschichte: ein Racheengel. Die Menschlein flüchten, Museumswände heben sich, zurück bleibt Natur. Aber denken wir lieber nochmal an den Anfang. Da hatte Mascha Schneider als Engel am Mikro gestanden und vorsprachliche Laute geformt: Atmen. Seufzen. Summen. Rattern. Gewehrsalven. Sound-Loops des Immergleichen, immer neu. Warum muss dann doch noch Terminator kommen? Anfangs ist es ziemlich groß. Am Ende dann keine Lokalgeschichte und doch ein bisschen zu klein.

Lena Schneider

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