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Materialschlacht mit Akhe

© Arina Nagimowa

Theaterfestival Unidram: Verhackstückte Herzensangelegenheit

Persiflage statt Romanze: Akhe eröffnet mit „Mr. Carmen“ die 25. Ausgabe des Potsdamer Theaterfestivals Unidram.

Carmen ist eine Herzensangelegenheit. Ohne Frage. Wenn José seiner Angebeteten, der freiheitsliebenden schönen Zigeunerin, den Dolch ins Herz stößt, geht das an die Seele. Auch bei Maxim Isaev und Pavel Semchenko von der russischen Theatergruppe Akhe wird Herz und Schmerz durchdekliniert. Ihr Stück „Mr. Carmen“, das am Dienstagabend den eigenwillig verrückten, farbenkräftigen Theaterkosmos von Unidram eröffnet, verhackstückt das Herz bis in seine kleinste Faser.

Zu Herzen geht das Liebesdrama hier allerdings nicht. Aufwallende Gefühle werden durch eine Bilderflut geradezu weggeschwemmt. Die beiden Schauspieler Maxim Isaev und Pavel Semchenko kosten in der Regie von Yana Toumina Leidenschaft und Eifersucht zwar bis zur Erschöpfung aus, suhlen sich darin, blasen sie in die Luft, malen sie blutrot und trauerschwarz aus. Doch das alles, ohne zu ergreifen. Hier wird persifliert, nicht romantisiert.

Tüftelnde und virtuose Stammgäste

Bei 25 Jahren Unidram gehören diese bärtigen Gesellen – wahre Waldschrate – ohne Wenn und Aber dazu. Sie sind Stammgäste, und jeder weiß, wozu er bei diesen tollkühnen Mannsbildern geladen ist. Sie sind Tüftler, Virtuosen, expressive Bildermaler, die das Theater immer wieder neu erfinden. Ohne Worte erzählen sie endlose Geschichten. Manchmal packen sie den Zuschauer mit kräftiger Faust, manchmal ermüden sie ihn mit überbordender Verspieltheit.

Bei „Mr. Carmen“ erlahmt die Faszination auf halber Strecke – trotz 50 tabakwolkigen, sahneschäumenden, messerscharfen Minuten. Obwohl die eigensinnigen Charakterköpfe immer wieder neue Akzente setzen, ist ihr „Mr. Carmen“ doch ein sehr angestrengtes Derivat des Herrn Bizet. Keine Habanera. Dafür Quertöne, Misstöne. Der Inhalt der „Habanera“, dieses Opernhits, den jeder mitsummen kann, steht dennoch imaginär im Raum: „Die Liebe ist ein wilder Vogel, den kein Mensch jemals zähmen kann.“ Und schon gar nicht dieser in sich zerrissene, doppelköpfige José! Er tritt als Muselmann in Erscheinung. Und die haben bekannter Weise mit freiheitsliebenden Frauen wenig am Hut, möchten sie aber umso mehr für sich vereinnahmen und bezwingen.

Der Name José erscheint in allen Varianten auf der Bühne: in Sternenstaub geschrieben und auf weißem Papier. Er verfliegt, wird zerknüllt, zerboxt, zermalmt. Dieser José löscht sich selber aus. Das begreifen wir schnell. Und bekommen es immer wieder vorgeführt.

"Stalker par  excellence“

Der „Stalker par excellence“ – wie er im Programmheft genannt wird – ist ein Hampelmann. José steigt mit weißem Tuch in den Ring. Ist weder der glorreiche Torero, noch der triumphierende Tänzer. Auch die Rose, die er quer im Mund trägt, ist weiß. Ausgeblutet. Er ist der Verlierer, von vornherein. Keine Metapher der Liebe wird in dieser die Eifersucht geißelnden Inszenierung ausgelassen. Weder der Apfel der Sünde, noch der rote Ariadnefaden. Die Wünschelrute geht ins Leere, der Galgen steht bereit. Der liebestolle, liebeskranke José liefert sich selbst ans Messer.

Unverdrossen laufen währenddessen José und Carmen als Puppen an dünnen Fäden um diese Kampfarena herum. Immer im gleichen Abstand. Am Ende wird der Faden zerschnitten. Die Figuren laufen aufeinander zu. Kommen sie doch noch zusammen? Auch wenn Akhe die Theaterwelt auf den Kopf stellt, zertrümmert und eigensinnig wieder zusammennagelt: Soweit lassen sie es nicht kommen!

Was am Ende von diesem überbordenden, wenig fassbaren Abend bleibt, sind einige Bilder: wie der poetische Tanz der roten und schwarzen Stiefel oder das wütende Zerhacken der roten Rosenblätter, die José in eine Zigarre wickelt, mannhaft raucht und in den Himmel bläst. „Mr. Carmen“ hinterlässt viel Qualm.

Wie schlicht und ergreifend nimmt sich dagegen die wundersam feine Arbeit des Franzosen Antoine Birot aus – die versteckt hinter einer Wand im Kunstraum zu finden ist. Und von vielen – leider! – übersehen wurde. Sie führt ebenfalls zwei Figuren vor, die sich im Kreise drehen. Diese hier sind aus Bronze und bewegen sich in einer fragilen Mechanik. Der Blick in der raumfüllenden Installation „The Need to move forward“ richtet sich vor allem auf die nach vorne gebeugte Figur: ein scheinbar schwebender Traumwandler, der eine Last hinter sich zieht. Er kommt langsam voran, durchquert Blumen, Wälder und Städte, trägt das Sternenzelt wie einen magischen Schleier über sich. Ein Doppeldecker taucht auf, durchkreuzt die Lüfte. Dieser kleine Mann, so wunderbar magisch in Licht getaucht, geht unverdrossen, unbeeindruckt weiter: Er erinnert an Sisyphos und auch an den Kleinen Prinzen.

„Wir wollen Theater zeigen, was wirklich etwas mit uns macht, sinnlich oder visuell“, sagte Franka Schwuchow im Vorfeld von Unidram im PNN-Interview. Birots Poesie ist wie eine sinnliche Umarmung. Und auch die rasanten und zu Herze gehenden Klänge vom Pulsar Trio aus Potsdam, die mit Sitar, Klavier und Schlagzeug den Festivalabend zu später Stunde erleuchten. „Mr. Carmen“ ist da längst im Nebel entschwunden. 

Unidram läuft bis zum 3.11. an verschiedenen Spielorten der Schiffbauergasse

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