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Erdbeerenwetter. Zaia Alexander, Schriftstellerin.

©  Tobias Böhm/Tropen Verlag

Roman „Erdbebenwettter“: Eine großartige Feier des Flüchtigen

Zaia Alexanders ungewöhnlicher Los-Angeles-Roman „Erdbebenwettter“ erzählt von modernen Hexen, Katzen und Kojoten.

Bret Easton Ellis, Bill Beverly, John Fante, James Ellroy, Ian McEwan, um nur ein paar zu nennen: Sie alle haben Los Angeles literarische Denkmäler gesetzt. Meist erscheint bei diesen Autoren die zweitgrößte Stadt der USA als Sinnbild des Sittenverfalls, der Dekadenz und Brutalität. Ikonische Bilder von L. A. gehören zum Standardrepertoire vieler Filme.

Mit ihrem Debüt „Erdbebenwetter“ hat die am Pazifik aufgewachsene Potsdamer Übersetzerin und Schriftstellerin Zaia Alexander einen ganz anderen, zeitgemäßen L.-A.-Roman geschrieben. Im Zentrum dieser anspruchsvollen Geschichte über sisterhood, Künstlerinnen, moderne Hexen, Mutterschaft und die Beziehung zwischen Tieren und Menschen steht eine fantasievolle, etwas orientierungslose Frau auf ihrem Weg der Selbstfindung.

Wäre sie nicht lange erwachsen und Mutter einer Tochter, müsste man von einem Coming-of-Age-Roman sprechen. Auch wenn die Filmindustrie (Lou ist eine erfolglose Regisseurin) am Rande vorkommt, führt Alexander hier an weniger bekannte Orte in Los Angeles. Die Natur, die auf verschiedene Weisen in die Wüstenmetropole eindringt, ist mehr als nur Kulisse; Kojoten beispielsweise streifen als „Todesboten“ durch die Viertel.

Ein Erzählstrang ist Lou und ihren Erlebnissen mit einem modernen, eher psychologisch als kräuterheilkundlich gebildeten Hexenkreis gewidmet. In Rückblenden gibt es Erinnerungen an Lous Kindheit mit einer oft abwesenden, tablettenabhängigen Mutter. Ein zweiter Strang erzählt in meist mit „Blau“ betitelten Kapiteln von der Beziehung, die Lou und ihre Adoptivtochter Lola und beide wiederum mit ihrer Katze Sophie haben.

Die Katze ist eine „Russisch Blau“. Blau ist die farbliche Tonalität dieses Romans. Denn Lou und der Kreis der Hexer und Hexen zelebrieren das Ungewisse, die Magie des Moments. Romantisch ist das allemal. „Man muss sich verändern, um man selbst zu bleiben“, lautet die Maxime des Gruppenmentors. Das Unberechenbare deutet sich schon im Titel an. Die Erwartung von „the big one“, des großen überfälligen Erdbebens in Kalifornien, scheint die Bewohner der Stadt erst recht zur Feier des Flüchtigen zu bewegen.

Eine seltsam-funkelnde Liebesgeschichte

Alexanders Roman hinterfragt häufig das Verhältnis des Menschen zur Natur: „Die Stadt breitete sich immer weiter aus und verdrängte die Tiere aus ihren natürlichen Habitaten“. Canyons schlängeln sich durch die Stadt, selbst die großen Boulevards besitzen „noch die Energie fließenden Wassers“. Kojoten töten schließlich Lous geliebte Katze.

Vor ihrem Angriff entfaltet sich eine seltsam-funkelnde Liebesgeschichte von drei weiblichen Wesen: Lou, ihrer altklugen Tochter Lola und Sophie, ihrer Katze. Dass Sophie einen menschlichen Namen trägt, ist kein Zufall. Manchmal bezeichnen Lou und Lola die Katze Sophie als „ihre gemeinsame Mutter“.

[Zaia Alexander: Erdbebenwetter.  Roman. Tropen Verlag, Stuttgart 2020. 320 Seiten, 22 €.]

Festgelegte Identitäten sind dem Hexenzirkel ein Gräuel. Namen ändern sich; Lou zum Beispiel heißt erst so, weil sich das ein charismatisches Gruppenmitglied gewünscht hat. Auch dass Menschen weggehen, verschwinden, gehört zum Alltag. Durch den Zirkel lernt Lou Angstfreiheit, Leichtigkeit und Selbstvertrauen, selbst wenn die Mittel der Großstadthexen manchmal drastische sind.

So muss Lou von heute auf morgen umziehen; eine Stunde Zeit lässt man ihr zum Kofferpacken. Niemand aus ihrem alten Leben darf wissen, wohin sie geht. Doch Vorsicht! Alexander erzählt keine melodramatische Sektenopfer-Geschichte. Vielmehr beschreibt sie die positive Entwicklung ihrer Heldin und wie sich der geheimnisvolle Freundeszirkel, als hätte er sein Werk getan, von ihr zurückzieht.

Nichts hat Bestand

Die eigentliche Hauptfigur von „Erdbebenwetter“ aber ist die Stadt selbst. Der rasche Identitätswandel, die Feier des Neuen, so wird Los Angeles von Alexander markiert. Da verschwinden Kinos, Cafés oder Geschäfte, die eben noch Fixpunkte in Lous Leben waren. Nichts hat Bestand. Und über allem schwebt „the big one“.

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L. A. erscheint hier als ein modernes Babylon. Amerikanerinnen sehen auf „deutschen Abenden“ chinesische Spielfilme, über die sie sich in einer Mischung aus Spanisch und Englisch unterhalten.

„Erdbebenwetter“ vermeidet es explizit, Los Angeles zu dämonisieren. Ohne Hässliches und Gefährliches auszusparen, zeichnet Zaia Alexander ein betörendes Bild dieser flirrenden Stadtlandschaft zwischen Pazifik und San Bernardino Mountains. Auch wenn „Erdbebenwetter“ das Flüchtige und Wandelbare zum Thema macht, dürfte dieser Roman lange Bestand haben. Tanja Dückers

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