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Der österreichische Autor Robert Menasse ist vom 14. bis 19. Mai auf dem Literaturfestival Lit:Potsdam.

© promo/Wolfgang Schmidt

Robert Menasse im Interview: „Die EU ist keine Wagenburg“

Robert Menasse will sich als Potsdamer fühlen, wenn er als Writer in Residence für das Literaturfestival Lit:Potsdam in die Stadt kommt. Ein Gespräch über Europa.

Von Helena Davenport

Herr Menasse, wie überzeugen Sie andere Menschen so kurz vor der Wahl, dass Europa wichtig ist?
 

Warum sollte ich das versuchen? Mir ist das Problem des politisch engagierten Autors allzu bewusst geworden: Man bekommt für seine Überzeugungen den Beifall der bereits Überzeugten und den Hass der Anderen. Der Beifall ist nett, aber nicht befriedigend, der Hass tut weh in der Seele. Aber irgendwann ist die Seele so vernarbt, dann beginnt beides zu langweilen. Potsdam ist mein letzter oder vorletzter Auftritt – danach will ich mich wieder zurückziehen und Romane schreiben. Ich bin Romancier und nicht EU-Missionar.

Heißt das, dass Europa in Ihren künftigen Romanen keine Rolle spielen wird?

Das habe ich nicht gesagt. Ich glaube nur, dass ich durch das Romanschreiben mehr bewirke als durch das Tingeln von einem Europa-Kongress zum nächsten. Ich hatte in den letzten eineinhalb Jahren rund einhundertfünfzig Vorträge, Impulsreferate und Podiumsdiskussionen, und irgendwann war es mir klar: Die einen halten mich für einen Phantasten, die anderen sagen Danke, weil ich sie bestätige. Ich will kein Denkmal in Brüssel, weil ich mich ach so vorbildlich für die Europäische Idee engagiert habe. Ich bin ein Dichter, ich will zurück zu meinem eigentlichen Leben, und das ist die literarische Auseinandersetzung mit meiner Zeitgenossenschaft.

Mit Ihrem Roman „Die Hauptstadt“ haben Sie der EU ein Gesicht gegeben.

Ja, das war die Absicht. Es ist doch seltsam: Jeder erlebt seine Nation konkret, aber die EU als etwas Abstraktes. Dabei ist es doch umgekehrt. Die EU ist ein sehr konkretes politisches Projekt, während die Nation ein abstraktes Konstrukt ist. Worin besteht die gemeinsame nationale Identität? Ich wüsste nicht, was meine nationalen Interessen sein sollen, die ich mit einem Tiroler Bergbauern teile, aber schon mit einem Südtiroler nicht, weil der Italiener ist. Alle Menschen haben doch dieselben Interessen, die teile ich auch mit Menschen im Alentejo oder am Peloponnes: die Gültigkeit der Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit, Sozialstaatlichkeit, gerechter Lohn für eine möglichst befriedigende Arbeit, ein Leben in Frieden, und so weiter.

"Der Haken ist, dass die Nationalisten systemimmanent sind."

Robert Menasse

Also empfinden Europäer Gemeinsamkeiten?

Wir haben nationenübergreifende Gemeinsamkeiten durch die gemeinsame Geschichte, die den Kontinent geprägt hat, über Sprach- und regionale Kulturgrenzen hinweg. Die Geschichte der Aufklärung ebenso wie die Horrorgeschichte des Nationalismus, die die Menschen, die aufeinander gehetzt wurden, gemeinsam zu Opfern machte. Ich habe das Konzept der nationalen Identität nie verstanden. In Brüssel habe ich ein Europa jenseits jeglicher nationaler Verbiesterung erlebt. Und genau das war meine Absicht, als ich nach einiger Recherche den Roman zu schreiben begann: Der EU ein Gesicht zu geben, zu zeigen, dass sie eben kein Abstraktum ist. Die EU ist menschengemacht, und sie hat als Konsequenz historischer Erfahrungen einen konkreten Vernunftgrund. Und alles, was Menschen machen, und die Gründe, die sie dafür haben, muss man erzählen können. Das war mein Anspruch.

Denken Sie an eine Fortsetzung von „Die Hauptstadt“?

Manchmal denke ich ganz groß, will zwanzig Fortsetzungen schreiben, ein umfassendes Panorama Europas unserer Zeit, eine tragi-comédie européenne. Dann will ich wieder etwas ganz anderes schreiben – oder gar nichts mehr. Ich frage mich, was überhaupt noch einen Sinn hat. Ich habe das Gefühl, dass die EU scheitern und zerbrechen wird, die Nationalisten werden Europa noch einmal in die Luft sprengen. Als Romancier könnte mich das eiskalt interessieren, das sind ja in der Literaturgeschichte die besten Romane, die von einem Epochenende erzählen, aber ich will diese Entwicklung nicht, und ich will nicht, dass mein Pessimismus sich wie ein Schleier über mein Schreiben legt.

Glauben Sie, es würde einen Unterschied machen, würde die EU sich sichtbarer machen, etwa auch in Potsdam?

Ich glaube nicht, dass die EU-Skepsis so vieler Europäer und das Erstarken der Nationalisten darin begründet sind, dass die Idee und die Arbeit des Einigungsprojekts bloß schlecht kommuniziert werden. Wenn das System einen Haken hat, dann funktioniert es auch nicht besser, wenn die Idee besser kommuniziert wird. Der Haken ist, dass die Nationalisten nicht von außen das hehre gemeinsame Friedensprojekt angreifen, sondern systemimmanent sind, das Gemeinsame von innen zerstören. Die mächtigste Institution der EU ist der Rat, also die nationalen Staats- und Regierungschefs. Sie müssen einstimmig entscheiden. Und das ist unmöglich, weil immer welche aus innenpolitischen Gründen Nein sagen.

Ich war die letzten Jahre Brüsseler. Jetzt bin ich eben kurzfristig Potsdamer."

Robert Menasse

Können Sie das genauer erklären?

Sie wissen, sie werden national gewählt und sie müssen daher die Fiktion aufrecht halten, dass sie nationale Interessen verteidigen. Sie blockieren im Rat die notwendige Gemeinschaftspolitik, fliegen dann von Brüssel heim und verkünden: Die EU funktioniert nicht, wir müssen also inzwischen nationale Lösungen finden! Aber bei den großen Problemen, die wir haben, kann es keine nationalen Lösungen geben – deswegen funktioniert gar nichts. Das merken die Menschen, da können Sie kommunizieren, was Sie wollen. Und zum Europäischen Parlament: Wir sollen eine gesamteuropäische Volksvertretung wählen, können aber nur nationale Listen wählen. Und was versprechen sie? Natürlich nationale Interessensvertretung im Parlament. Da brauche ich keine Rechtsextremen mehr, wenn schon die Parteien der Mitte europapolitisch rechtsüberholende Geisterfahrer sind. Wenn es nicht gelingt, diesen Grundwiderspruch zwischen der notwendigen nachnationalen Entwicklung in Zeiten der Globalisierung und der Renationalisierung irgendwie zu überwinden, fliegt das Ganze in die Luft.

Sie haben, wie erwähnt, mehrere Jahre in Brüssel gelebt. Wie sahen Ihre Recherchen aus, und haben Sie sich dort wohl gefühlt?

Ich habe einfach versucht, mit möglichst vielen Menschen, die in den europäischen Institutionen arbeiten, zu reden, mir erzählen zu lassen und zu beobachten, wie sie arbeiten, wie sie ticken. Das war einfach. Die Institutionen sind offen, transparent, die EU ist keine Wagenburg. Ich habe mich sehr wohl gefühlt in Brüssel, nur manchmal war ich geknickt durch Selbstbezichtigungen. Ich wäre selbst auch gerne so perfekt mehrsprachig und hochqualifiziert wie die Menschen, mit denen ich zu tun hatte. Die älteren Beamten neigen zur Schwermut, sie haben noch die Delors-Zeiten erlebt und leiden sehr daran, wie jetzt alles feststeckt und kriselt. Für mich waren sie die produktivsten Quellen.

Der einzige, der sich von den Protagonisten aus Ihrem Roman an Auschwitz erinnern kann, hat Demenz. Das ist nur ein Beispiel für Ironie aus ihrem Buch. Warum haben Sie sich dazu entschieden, Ironie als Stilmittel einzusetzen?

Ich glaube nicht, mich entschieden zu haben. Ich bin so: Ein geselliger Autist, ein heiterer Depressiver. Das alles führt zu einem ironischen Blick auf die Welt. Zynismus hasse ich, aber Ironie ist ein Lebensmittel, ein Überlebensmittel. Die Literatur liefert dafür ja die Bestätigung. Musil ohne Ironie wäre unerträglich. Thomas Mann ohne Ironie, völlig unerträglich. Doderer ohne Ironie, völlig verblasen. Umgekehrt wäre zum Beispiel Tellkamp mit Ironie sogar luzid.

Ihre Ironie gilt vor allem den Pragmatikern.

Ja, das ist doch wirklich Ironie per se: Wir leben seit einem Jahrzehnt im Modus multipler Krisen. Wer ist dafür verantwortlich? Das waren doch keine Phantasten oder Utopisten, das waren Pragmatiker. Und jetzt erwarten die einen von denselben Pragmatikern, dass sie die Krisen lösen. Die anderen glauben, dass die Totengräber die besseren Ärzte wären, nämlich die Rechtspopulisten und Nationalisten. Ein Krankenbett, an dem der Totengräber mit dem Apotheker, der das Gift verabreicht hat, über Therapien diskutiert – wie kann man das ohne Ironie erzählen?

Und es sind vor allem die Pragmatiker, die in Ihrem Buch die Fäden in der Hand haben. Die Protagonisten, die idealistischer auftreten, funktionieren schlechter. Was schätzen Sie, wie kann Idealismus heute gewinnbringend sein?

Dass die sogenannten Pragmatiker die Fäden in der Hand haben, wissen doch alle. Und dass die Idealisten schlechter funktionieren, beziehungsweise sich schwerer tun, ist auch eine allgemeine Erfahrungstatsache. Versuchen Sie einmal, mit kühnem Idealismus Chefredakteurin zu werden! Andererseits ist Idealismus natürlich gewinnbringend, er ist der Staubzucker auf den sauren Verhältnissen, aber langsam sickert er etwas durch und das Leben wird ein bisschen süßer.

Zur aktuellen Diskussion um das angebliche Zitat von Walter Hallstein, das Sie in Ihrem Roman verwenden: Warum war es wichtig, dass Hallstein diese Worte sagt?

Es ist eine Legende, dass Hallstein in meinem Roman etwas sagt. Es ist so, dass eine Romanfigur erzählt, dass Hallstein gesagt habe, dass die Idee des Europäischen Einigungsprojekts die Überwindung des Nationalismus sei. Und eine andere Romanfigur ist erstaunt. Das rechtfertigt so viel Aufregung? Weil Hallstein das so in diesen Worten nicht gesagt hat? Es hat eine Romanfigur so gesagt. Punkt. Dann hat man mir vorgeworfen, dass ich diese Geschichte auch außerhalb meines Romans verwendet habe. Ja, das habe ich gemacht. Erstens kann man verschiedene Hallstein-Reden tatsächlich so zusammenfassen, das haben Experten für Europäische Geschichte inzwischen bestätigt. Und zweitens hat es mir diebisches Vergnügen bereitet, den konservativen Zweiflern an der nachnationalen Entwicklung einen CDU-Politiker entgegenzustellen, der vor mehr als einem halben Jahrhundert gedanklich weiter war als sie es heute sind. Wenn ich den Satz nicht unter Anführungszeichen gesetzt hätte, hätte es keine Handhabe für die Erregungsfanatiker gegeben, und der Satz wäre genauso wahr. Ich werde also in Zukunft keine Anführungszeichen verwenden, ich lerne aus formalen Fehlern.

Wofür ist, Ihrer Meinung nach, künstlerische Freiheit da?

Um sich mit allen künstlerischen Mitteln mit der Welt auseinandersetzen zu können. Aber vielleicht ist künstlerische Freiheit auch sublimierter Freiheitskampf.

Sie sind in diesem Jahr Writer in Residence in Potsdam. Was verbinden Sie mit der Stadt?

Ich bin Potsdamer! Wenn ich hier in Residence bin, bin ich Potsdamer. Ich war die letzten Jahre Brüsseler. Jetzt bin ich eben kurzfristig Potsdamer.

Was genau machen Sie hier während Ihrer Residence?

Ich mache Erfahrungen. Ich lerne, was es heißt, Potsdamer zu sein. Und vielleicht gelingt es mir, dass Potsdamer lernen, Europäer zu sein. Aber bisher habe ich nur welche getroffen, die es sind. Dann trinken wir mitsammen und sagen: Die Zukunft, ach, sie war so schön.

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