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Wie große Weltgeschichte kleine Ich-Inseln prägt: Davon erzählt teatreBLAU in "Close up/Zoom out".

© Santiago Stankovic

Premierenreigen im Potsdamer Schirrhof: Der Tod kommt sowieso

Spuren von Diktaturen, der feste Griff des Suffs und das Kommen und Gehen des Lebens: Die Kompanien teatreBlau, Ton & Kirschen und Theater Nadi zeigen bei den Schirrhofnächten neue Stücke.

Potsdam - Dieser Abend beginnt ohne Luft zu holen. Vom sonnenheißen Schirrhof geht es nach drinnen, ins T-Werk. Plätze suchen, Abstand halten, Licht aus: Bühne frei für Weltgeschichte. Auf einer Leinwand werden die Diktaturen aufgelistet, die das 20. Jahrhundert zu einem so schrecklichen gemacht haben. Deutschland 1933/1945 – oder, fragt eine Stimme aus dem Off, sollte es heißen: 1933/1989? Spanien: 1939/1975. Chile: 1973/1990. Syrien: 1971/heute.

„Close Up/Zoom Out“ heißt der Abend des in der Schiffbauergasse ansässigen teatreBlau. Was sich übersetzen ließe mit: Nahaufnahme/Vogelperspektive. Oder doch ein Bezug auf das Programm „Zoom“, dieses in Zeiten des Homeoffice so unerlässliche Hilfswerkzeug in Sachen Internettelefonie? So oder so: „Close Up/Zoom Out“ will den Bogen spannen vom großen Ganzen zur kleinen Ich-Insel. Will die Nöte, Ängste, Engen des Individuums zeigen vor dem Panorama der Geschichte.

teatreBlau: Diktaturen, die Spuren hinterlassen haben

Und diese Geschichte ist so vielseitig wie die Protagonisten dieses Abends. Es tanzen, sprechen, spielen in dieser zweiten Premiere bei den Schirrhofnächten 2020 die Chilenin Andrea Cruz, der Spanier Marc de Pablo und der Syrer Jol Alholo. Drei Biografien, in denen Diktaturen Spuren hinterlassen haben – und, das ist die These des Abends, weiter hinterlassen.

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So erzählt Andrea Cruz aus dem Off, wie damals, sie war noch Kind, plötzlich lauter Cousins und Cousinen bei ihr zuhause einzogen – eine große Party. Erst später begriff sie, dass die Familie damals aus einem von Scharfschützen bedrohten Haus evakuiert worden war. Und Jol Aholos Stimme berichtet vom Hass auf seine Schule, auf der Bühne schüttelt es seinen Körper zwischen kindlichen Luftsprüngen und geducktem Zusammenzucken vor imaginierten Schlägen.

Wer eben noch Täter war, wird bald selbst zu einem

Überhaupt ist körperliche Gewalt, die Angst davor, die Macht davon, eines der Haupttehmen in „Close Up/Zoom Out“. Wer eben noch imaginäre Schüsse abfeuerte, liegt im nächsten Moment zusammengekrümmt auf dem Boden. In einer Szene zähmt Andrea Cruz ihre zwei Mittänzer wie wildgewordene Hunde; dann wird sie selbst zu einem. In einer anderen wird ihr Lachen nach und nach zu verzweifeltem, tränenechtem Weinen. Das sind intensive, packende, extrem körperliche Zustände, die Regisseur Arne Pohlmeier hier erzählt – nach einem Konzept von Katja Lebelt übrigens, die eine kurze Zeit lang drüben in Brandenburg an der Havel ihr Glück als Intendantin versuchte und danach das interkulturelle Projekt von teatreBlau ins Leben rief.

Wo der Abend sich auf die extrem körperliche Präsenz der Darsteller verlässt, ist er stark. Wo man den in der jeweiligen Muttersprache vorgetragenen Erzählpassagen auf der englischen Übertitelung hinterherzuhecheln versucht, weniger. Überhaupt entsteht der Eindruck, dass zwischen Musik, Videomaterial (Santiago Stankovic), eingespielten Interviews und Publikumsbefragung („Sind wir sicher?“, „Was ist Freiheit?“) die Konzentration auf das eigentliche Thema etwas verlorengeht. Um all die ehrgeizig aufgebrachten Mittel und angerissenen Facetten zusammenzuknoten, muss am Ende ganz schön der Zeigefinger erhoben werden.

"Die Legende des heiligen Trinkers" gilt das Testament Joseph Roths. Er schrieb die Erzählung 1939, im Jahr seines Todes, in Paris.
"Die Legende des heiligen Trinkers" gilt das Testament Joseph Roths. Er schrieb die Erzählung 1939, im Jahr seines Todes, in Paris.

© Frank Grellert

Unverstellte Nostalgie bei Ton & Kirschen

Ohne Zeigefinger, dafür aber mit ehrlicher, unverstellter Lust an der Nostalgie geht das Wandertheater Ton & Kirschen in seiner Premiere „Die Legende vom heiligen Trinker“ nach Joseph Roth ans Werk. Diese war im Anschluss zu erleben, draußen auf dem Schirrhof. Roth schrieb sie 1939 im Pariser Exil, im Jahr seines Todes. Die Erzählung gilt als Roths Testament: Sie begleitetet Andreas, einen Trinker, durch seine letzten Tage, durch eine Reihe von Wundern.

Die Inszenierung von Margarete Biereye und David Johnston steht ganz im Zeichen dieses Endes: vom Auftritt des geheimnisvollen Reichen, der Andreas (Rob Wyn Jones) zu Anfang 200 Franc aufnötigt, bis zur halluzinierten Begegnung mit der Heiligen Theresa, der Andreas, ein Auftrag des Fremden, die 200 Francs zurückgeben soll. Andreas, der Clochard, kann sein Glück kaum fassen und erlebt zunächst Tage nachgeholten Lebens: die Begegnung mit einer alten Liebe, den kurzen Rausch mit einer neuen, die Ablenkung mit Freudenmädchen, die Wiederbegegnung mit einem Freund im Luxushotel, mit einem Wegbegleiter aus der schlesischen Heimat im Suff.

Fest im Griff des Suffs

Überhaupt liegt der Suff über allem: trotz der Glückssträhne, in die Andreas gerät, hat der ihn fest im Griff. So hübsch auch die Beine der Verkäuferin sind, so reizvoll die Nachbarin im Hotel, so schwungvoll der Frisör, der ihm die Bettler-Frisur glättet: Andreas hat den Glauben an die Welt verloren. An Gott ohnehin.

All das wird, trotz einiger herrlich komischer Einlagen vor allem von David Johnston, Francesco Bifano und Nelson Leon in variosen Kurzauftritten äußerst gemächlich, beinahe betulich erzählt: Als hätte auch die Inszenierung angesichts des unvermeidlichen Endes keine Eile. Der Tod kommt sowieso.

Theater Nadi erobert sich mit "Tokpela - Erscheinen und Verschwinden" den Schirrhof.
Theater Nadi erobert sich mit "Tokpela - Erscheinen und Verschwinden" den Schirrhof.

© Lena Schneider

Allegorie auf das Kommen und Gehen

Als Allegorie auf das Kommen und Gehen, das das Leben ist, Stolpern inklusive, ließ sich auch die letzte Premiere des langen Abends lesen: Theater Nadi und „Tokpela – Erscheinen und Entschwinden“. Steffen Findeisen und Noriko Seki erobern sich hierin, begleitet von übergroßen Schatten auf dem Gemäuer, die Breite des Schirrhofs: in bunten harlekinhaften Kostümen. Zunächst zeremoniell, dann clownesk als Buffos mit Spritzpistolen. Und zuletzt, schon fast verschwunden, schlicht und blank in zeitgenössischer Kleidung. Die Bandbreite der Möglichkeiten, durch das Leben zu gehen? Der Ausgang bleibt derselbe.

Für „Close Up/Zoom Out“ am 8.8. um 17 und um 19.30 Uhr im T-Werk gibt es noch Karten. Die Vorstellungen von „Die Legende vom heiligen Trinker“ sind ausverkauft.

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